Thomas Müller beim Keynote-Vortag "Die Schattenseiten der Arbeitswelt". Der Kriminalpsychologe war auf Einladung von ARS (Akademie für Recht, Steuern und Wirtschaft) in Wien.

Foto: ARS

"Wäre ich nicht Kriminalpsychologe geworden, wäre ich ein Kapitalverbrecher geworden." Thomas Müller hat in die Psyche von dutzenden Mördern geblickt. Die "Bestie Mensch", wie ein Buch des Tiroler Kriminalpsychologen heißt, gibt es nicht: "Man sieht es ihnen allen nicht an." Die Grenzen seien fließend, Werte ändern sich. Jeden Sonntag steht halb Österreich mit einem Bein im Kriminal: Zeitungsdiebstahl wird nicht einmal gesellschaftlich sanktioniert. "Und wie sieht erst jemand aus, der einen Bunker baut." Leute wie Franz Fuchs oder Jack Unterweger haben kein Stigma auf der Stirn.

Bei der Beurteilung von Menschen werde ein entscheidender Fehler gemacht, sagt Müller, "wir gehen von unseren eigenen moralischen Werten aus." Unter bestimmten Umständen könne jeder in eine Situation kommen, wo es heißt: "Jetzt mag ich nicht mehr." Wie reagiert jemand auf eine Belastung? "Diesen Zustand kann man nicht antizipieren", so Müller bei einem Vortrag in Wien über die "Schattenseiten der Arbeitswelt". Entscheidend sei der Weg dorthin. Die Warnsignale, die weder Mitarbeiter noch Führungskräfte ignorieren sollten.

Paranoia

"Doch nicht der. Er war so ein netter, hilfsbereiter Nachbar. Das hätte ich ihm nie zugetraut." Sätze wie diese hat Müller hunderte Male gehört. Sie folgen einem bestimmten Muster, denn nach 30 bis 40 Stunden erfolgt zumeist der Meinungsumschwung. Und der nette Nachbar mutiert zum "Typ, der immer schon etwas komisch war." Marke Eigenbrötler. "Wir sind unfähig Leute und ihre Verhaltensweisen richtig zu intepretieren." Bei der Beurteilung müsse man sich von den eigenen Werten als Maßstab verabschieden, sagt Müller und zitiert ein sudanesisches Sprichwort: "Suche den Feind im Schatten deiner Hütte."

Drei Säulen fürs Selbstwertgefühl

Abgesehen von Handlungen im Affekt sei der Weg vom "normalen Bürger" zum Verbrecher ein langer: "Niemand wacht auf und denkt sich, heute greife ich in die Kassa." Das Selbstwertgefühl, konstatiert Müller, sei das "Zauberwort für destruktive Verhaltensweisen". Es setzt sich aus drei Ebenen zusammen. Der beruflichen Tätigkeit, dem Privatleben und "Entscheidungen, die ich für mich treffe". Wie ins Theater gehen, Bücher kaufen etc. Was banal klingt, ist aber immens wichtig, mahnt er, da diese Ebene sehr oft vernachlässigt werde. Natürlich könne man nicht immer alle drei Bereiche gleich gewichten. "Ist aber einer prozentuell gesehen mehr als die Summe der zwei anderen, dann wird es gefährlich." Es sei eine Illusion zu glauben, dass man auf Dauer ein Desaster, das sich zum Beispiel Privatleben nennt, mit beruflichem Erfolg kompensieren könne. Umgekehrt genauso. Jeder solle seine eigene Verteilung unter die Lupe nehmen: "Und zwar am besten zuhause in aller Ruhe und nicht nach vier Bieren im Wirtshaus."

Neurosen, Drogen

Gerät das Dreieck aus den Fugen, so gibt es nicht viele Möglichkeiten, meint Müller und spricht von veritablen Neurosen, die man sich zulegen könne oder einem Suchtverhalten, das oft die Folge einer Krise sei. Neben Kokain spielen in der Arbeitswelt vor allem angstlösende Medikamente eine große Rolle. Mit einer unheilvollen Nebenwirkung, so der Tiroler: "Man schafft zwar eine Präsentation, verliert aber auch sonst jegliches Angstgefühl." Mit zum Teil fatalen Konsequenzen. "Ein einfacher Broker kann Milliarden verspielen." Wie es vor nicht allzu langer Zeit in Frankreich passiert ist.

Narzissmus

Die dritte Möglichkeit ist Narzissmus, oft gepaart mit Selbstmitleid: "Es geht mir auf die Nerven, dass es den anderen besser geht." Leute streben ein Amt an, um sich selbst höher zu machen. Müller appelliert an Personalverantwortliche, bei Neueinstelllungen auf die soziale Intelligenz zu achten. „Ich habe Leute kennengelernt, die knapp am Nobelpreis vorbeigeschrammt sind, aber unfähig waren, mit Leuten normal zu reden." Nachsatz: "Mikrofone hatten eine größere soziale Kompetenz als diese Menschen."

Jeder fünfte Suizid auf Probleme am Arbeitsplatz zurück. Als Warnzeichen identifiziert Müller etwa länger andauernde Stresssituationen (ab sechs Monaten) und mangelnde Identifizierung mit dem Unternehmen. Arbeitsplatzkriminalität dürfe man allerdings nicht nur auf die physische Ebene reduzieren. Erpressung, Nötigung, Mobbing oder Datendiebstahl sind einige Beispiele. "Jeder Mobbingfall kostet einer Firma im Schnitt 20.000 Euro", so Müller. Das seien strafrechtlich relevante Handlungen, die man nicht bagatellisieren dürfe.

Schweizer Massenmörder

In einer offenen, ehrlichen Kommunikation sieht er den Schüssel zum Erfolg, um Kriminalität am Arbeitsplatz zu unterbinden. "Es ist die Summe aus kleinen, persönlichen Demütigungen, die einen ausrasten lässt." Müller nennt als Beispiel Friedrich Leibacher. Ein Schweizer, der im Jahr 2001 im Parlamentsgebäude in Zug 14 Politiker hinrichtete. Es begann mit einem einfachen Streit mit einem Busfahrer, ging weiter mit jahrelangen Rechtsstreitigkeiten und kulminierte schließlich in Hass auf Politiker, ausgedrückt in 91 Schüssen. Solche Wahnsinnstaten zu verhindern, sei schwer möglich: "Sie können nicht so denken wie ein Massenmörder, Sie können nur seine Schuhe benützen."

Signale ernst nehmen

Anonyme E-Mails oder Beschwerdebriefe seien ein Indikator für die psychische Gesundheit einer Firma, so Müller. Wenn sich jemand allerdings physisch irgendwo hinbewegt, um anonym eine schwarze Rose, ein Paket oder was auch immer als Drohung zu hinterlassen, sei das noch viel gefährlicher. Spätestens dann sollten alle Alarmglocken läuten. "Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter", warnt Müller und erzählt von Mördern, die um drei Uhr in der Nacht Abschiedsbotschaften filmisch festhalten, am nächsten Tag aber ganz normal mit Krawatte ins Büro gehen. Und eben mit der Pumpgun. "Sie können in Menschen nicht hineinschauen, man muss aber Veränderungen richtig interpretieren."

Waffen müssen in Büros tabu sein. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die Müller aber extra betonen möchte: "Null Toleranz." Es habe unlängst einen Fall in Vorarlberg gegeben, berichtet er, wo ein Aufsichtsrat seine Waffe bei einer Konferenz auf den Tisch gelegt habe. Die Reaktionen waren relativiert: "Uh, der Franz spinnt wieder", so Müller, "die Waffe sagt uns aber, dass sein Selbstwertgefühl total im Keller ist." Quasi Alarmstufe rot.

Persönliche und finanzielle Motive

Gewalt am Arbeitsplatz drehe sich lediglich um zwei Motive. Persönliche und finanzielle Dinge. Im Verhältnis 9:1. Führe man sich das vor Augen, so könne man auch verstehen, dass es uns alle treffen kann. Viele Probleme ließen sich durch Prävention verhindern. Etwa, indem man beim Vorstellungsgespräch so viel wie möglich über den Bewerber in Erfahrung bringt. "Geht er in seiner Freizeit mit den Kindern rodeln oder züchtet er Kampfhunde."

Keine mehr reinwürgen

Betriebliche Probleme lassen sich nicht so einfach durch Kündigungen lösen, ist er überzeugt. "Sie haben zwar die Person mit dem Problem aus dem Gebäude befördert, aber das Problem selbst nicht gelöst." Bei Entlassungen spiele das "Wie" eine große Rolle. Viele Manager würden den Fehler begehen, bei Kündigungsgesprächen den Mitarbeiter auch noch fertig zu machen. "Wozu?" Austrittsgespräche sollten so geführt werden, dass man den Menschen zu einem späteren Zeitpunkt wieder ins Gesicht schauen könne. "Keine Demütigungen mehr." Die brennen sich ins Gehirn.

Kopiererszenario spiegelt Stadien wider

Menschen, die Gewalt am Arbeitsplatz ausüben, durchlaufen oft eine bestimmte Struktur, meint Müller mit Verweis auf seine jahrelangen Analysen. Die Stadien: Prinzipientreue, Intoleranz, Querulantentum. Als Beispiel, "bitte nicht ganz so erst nehmen", erwähnt er einen Kopierer. Der Tatort: Großraumbüro. Das Szenario: Jemand möchte etwas kopieren, das Papier ist aber aus. Was macht ein prinzipientreuer Mensch? Er legt Papier nach. Was macht ein Intoleranter? Er wird erboste Mails schreiben, Zettel aufhängen und wegen dem fehlenden Papier schimpfen: "Machen Sie das nicht mehr." Oft begleitet von Sprüchen und Zeichnungen, wie sie jedes Büro kennt. Und was macht der Querulant? Der denkt sich: "Ihr habt's das Papier absichtlich rausgenommen, ihr werdet euch alle noch wundern." Und da, so Müller, werde es gefährlich. (om, derStandard.at, 7.12.2011)