Die Hand als Merkhilfe und Orakel: In China gibt es eine jahrhundertealte Tradition, die Abschnitte der Finger mittels komplizierter Berechnungen zum Lösen praktischer Probleme zu nützen.

Foto: M. Hanson

An die Begebenheit, die für Marta Hanson so manches änderte, kann sie sich noch ganz genau erinnern. Es war im Jahr 2000, als eine Freundin aus Taiwan zu Besuch kam. Die US-Spezialistin für chinesische Medizingeschichte fuhr zum Flughafen, um den Gast abzuholen. Doch dabei gab ihr Auto den Geist auf, wie Hanson erzählt: "Zum Glück rief die Freundin aber unmittelbar nach ihrer Ankunft an, sodass ich ihr sagen konnte, wie sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu mir kommen konnte."

Aus Neugierde fragte die Gastgeberin am nächsten Tag ihre Freundin, warum diese so bald nach der Ankunft angerufen hatte. "Sehr zum Erstaunen erzählte sie mir, dass sie mit ihrer Hand einige Berechnungen angestellt und daraus abgelesen hat, dass ich gerade ein kleines Problem hatte." Die Medizinhistorikerin habe ungläubig den Kopf geschüttelt, ehe ihr Gast beim dritten Erklärungsversuch auch noch den komplizierten Berechnungsmodus mitsamt der Hand, den Fingerlinien und den dadurch vorgegebenen Diagrammen aufzeichnete.

Das war das Heureka-Erlebnis für die China-Spezialistin. "Ich arbeitete damals nämlich gerade an einem Artikel über Bilder in der chinesischen Medizin. In einem Text aus dem 17. Jahrhundert war ich über einige Handillustrationen gestolpert, die bis jetzt nicht interpretieren konnte." Im neuen Lichte der Hand-Orakelei ihrer Freundin verstand sie nun, dass die Handabbildungen mit den rätselhaften Diagrammen dazu da waren, sich Wissen einzuprägen.

Hanson fand heraus, dass solche Handabbildungen nicht nur in uralten Texten seit dem 8. Jahrhundert auftauchten, sondern auch in heutigen Almanachen. In diesen Büchern, die vor allem zum chinesischen Neujahr erscheinen, dienen die Handabbildungen aber weniger als Gedächtnishilfen, sondern als Hilfsmittel für Weissagungen. "Das System und die Logik dahinter seien aber im Grunde dasselbe", sagt Hanson.

Die Medizinhistorikerin, die heute Mittwoch zu einem Gastvortrag nach Wien kommt, arbeitet derzeit an einem Buch über diese bislang im Westen weitgehend unbekannte chinesische Technik des Erinnerns. Entfernt würde diese an das Konzept des "Gedächtnispalasts" erinnern, der hierzulande als mnemotechnische Hilfe Verwendung fand.

Das neueste Buch der Sinologin, die an der Johns Hopkins University in Baltimore arbeitet, hat mit Händen freilich wenig zu tun: Hanson erforscht darin unter anderem, welche Art von Medizin bei Epidemien in China zur Anwendung kam. Auf der einen Seite habe sich im 20. Jahrhundert in China mit dem Einfluss des Westens in der Medizin Chinas zwar alles verändert. Zugleich halte man aber nach wie vor an Konzepten der Traditionellen Chinesischen Medizin fest, bei denen das Klima eine wichtige Rolle spielt.

"Ärzte in China heute haben überhaupt kein Problem mit moderner Virologie und anderem biomedizinischen Wissen", so Hanson. Sie nützen parallel aber auch das Wissen der Traditionellen Chinesischen Medizin, um etwa die Körpertemperatur fiebriger Patienten zu senken. Bei Malaria etwa haben sich bestimmte chinesische Heilkräuter sogar als so wirksam erwiesen, dass sie im Westen empfohlen wurden.

Dieser seltsame Pluralismus zeigte sich auch bei der Ausbruch der Sars-Epidemie 2003, wie Hanson herausfand: Rund die Hälfte der Patienten wurde sowohl mit Medikamenten behandelt, die auch im Westen üblich sind, als auch mit Kräutern, die in der raditionellen Chinesischen Medizin zu Anwendung kommen. (DER STANDARD, Printausgabe, 07.12.2011)