Dieter Stiefel: "Zu Tode gfürchtet, is a gstorbn."

Foto: Schumpeter Gesellschaft

Warum ein Mehr an Europa und internationaler Zusammenarbeit sich immer auszahlt, der Euro die Rettung, eine Fiskalunion aber wenig realistisch ist, erklärt der Wirtschaftshistoriker und Ökonom Dieter Stiefel.

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derStandard.at: Im Alltag merkt man von der Euro-Krise noch wenig. Wie lässt sie sich einfach für die Menschen erklären?

Dieter Stiefel: Auf Wienerisch sagt man ja: "Zu Tode gfürchtet, is a gstorbn". Das Schaurig-Schöne hat Tradition in Europa. Dabei ist schon die Wortwahl ein Problem. Die Krise kommt aus dem Medizinischen. Sie zeigt an, ob der weitere Krankheitsverlauf positiv oder negativ ist. Es ist also ein Zeitpunkt, wo auch eine Wendung zum Guten eintreten kann.

derStandard.at: Wird die Eurozone bestehen bleiben?

Stiefel: Die EU hat seit 1958 permanent Krisen durchgemacht. Mitte der 1960er-Jahre ist Frankreich ein halbes Jahr gar nicht mehr zu Ratssitzungen gekommen. Die Gemeinschaft war entscheidungsunfähig, man sprach von der Politik des leeren Stuhls oder der Eurosklerose. Aber aus jeder dieser Krisen ist die EU gestärkt hervorgegangen. Die Einführung des Euro war ein Wunderwerk. Auszusteigen wäre für jedes einzelne Land schlichtweg eine Katastrophe. Der Euro ist die Rettung, und nicht das Problem.

derStandard.at: Was ist momentan das größere Problem, die Politik oder die Finanzmärkte?

Stiefel: Die Probleme kommen eigentlich aus dem Finanzsektor. Das ist relativ neu. Normalerweise kommen Krisen aus dem Produktionssektor, der dann die Banken mitreißt. Diesmal ist es genau umgekehrt. In der Finanz kriselt es, während die Produktion und der Konsum noch ganz gut laufen. Fahren Sie durch Wien, sie werden nichts von einer Krise bemerken. Anders verhält es sich natürlich in Ländern, die schon lange strukturelle Schwierigkeiten haben. Das betrifft Griechenland, aber auch die iberische Halbinsel. Spanien beispielsweise hat schon lange horrende Arbeitslosenraten von über 15 Prozent. Auch in Ostdeutschland schaut es düster aus.

derStandard.at: Ist man jetzt vom Finanzsektor abhängig?

Stiefel: Natürlich hat Europa sich mit der hohen Verschuldung dem Finanzsektor ausgeliefert. Wobei, der Finanzsektor sind ja nicht alles bösartige Spekulanten, sondern ganz normale Leute und Institutionen. Das sind zum Beispiel Pensionsfonds, die verpflichtet sind, für ihre Kunden etwas zu machen. Oder Privatanleger, die ihre 100.000 Euro Erspartes sicher anlegen wollen. Man weiß an sich wie der Finanzsektor denkt und arbeitet, und danach müsste sich die Politik richten können.

derStandard.at: Was ist dann das Problem damit?

Stiefel: Man muss sagen, dass der Grad an Liberalisierung im Finanzsektor zu groß war. Die Kontrolle ist den Nationalbanken völlig entglitten. In diesem Klima hat man dann diese strukturierten Produkte erfunden, die im Grunde extrem unseriös gewesen sind und viel Schaden angerichtet haben. Nach dem Feiern hat man jetzt den Kater. Ich glaube daher, dass der Finanzsektor wieder mehr kontrolliert wird. Was natürlich schwer ist, weil er sehr viel Einfluss hat. Die Berater von US-Präsident Obama kommen zu einem großen Teil aus der Finanzwelt. Auch die englische Regierung hört natürlich auf die City (Anm.: Londons Finanzdistrikt), ganz einfach weil ein Drittel der Wirtschaftsleistung dort gemacht wird. Aber es wird letztendlich wieder zu mehr Regulierung kommen.

derStandard.at: Was sagen Sie zum Vorwurf der Banken, die EU hätte Staatsanleihen von Griechenland schmackhaft gemacht, eine Suppe, die sie im Zuge des Schuldenschnittes jetzt auslöffeln müssten?

Stiefel: Wer den Gewinn macht, muss auch den Verlust tragen. Bei diesen hohen Zinsen muss doch jedem Investor klar sein, dass da ein entsprechendes Risiko dahintersteckt. Keine private europäische Bank lässt sich von einem Politiker sagen, wie sie ihre Anleihenpolitik zu machen hat.

derStandard.at: Die Banken misstrauen einander. Die Notenbanken tun viel, um den Geldfluss zwischen den Kreditinstituten zu stärken. Der richtige Weg?

Stiefel: Ja, die Ankündigung der Notenbanken letzte Woche, sich wechselseitig günstig Devisen zur Verfügung zu stellen, ist ein erstaunlicher Akt der Zusammenarbeit. Diese Koordinierung ist sehr wichtig. Nehmen wir zum Beispiel die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Der große Fehler damals war, dass man international nicht zusammengearbeitet hat. Heute arbeiten IWF, EU, G7, G20 und die Zentralbanken zusammen. Das ist der einzige Weg, so eine Krise in den Griff zu bekommen.

derStandard.at: Stichwort Verschuldung: Was früher ignoriert wurde, lässt heute die Zinsen für Staatsanleihen steigen?

Stiefel: Staaten sind heute riesige Wirtschaftskörper. Der österreichische Staat verteilt 50 Prozent seiner Wirtschaftsleistung um. In so einem riesigen Wirtschaftskörper haben Sie natürlich Kredite. Es geht eigentlich nicht ohne. Aber wie schon der mittelalterliche Arzt Paracelsus gesagt hat: "Die Menge macht das Gift." Das heißt, ein gewisses Maß an Staatsverschuldung ist sehr sinnvoll. Es ist auch gut für den Finanzmarkt, weil Staatstitel eine sehr sichere Investition sind. Aber die Menge der Schulden, die viele Länder in den letzten Jahren angehäuft haben, ist sicher zu viel. Das hätte nicht passieren dürfen.

Nun wird aber ein EU-Mechanismus kommen, damit die Verschuldung nicht zu groß wird. Steigt die Verschuldung über ein gewisses Level, zum Beispiel 70 Prozent des BIP, dann könnte eine internationale Kontrollinstitution in die Budgethoheit eingreifen. Die Länder werden sich aber auch in diesem Fall intensiv darum bemühen, keine Kontrolle von außen zu bekommen.

derStandard.at: Österreich versucht sich an der Schuldenbremse. Zu spät?

Stiefel: Nein. Wir waren ja schon einmal nahe der Maastricht-Grenze, die eine Staatsverschuldung von maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorschreibt. Dann kam die Krise und mit dem Wirtschaftseinbruch und den Bankenrettungen der Schuldensprung (Anm.: 2011 beträgt die österreichische Staatsschuld 73,6 Prozent).

Aber es ist gar nicht so sehr die Frage, wie viel man absolut ausgibt, sondern wo die Dynamiken liegen. Die liegen in den Pensionen und im Gesundheitswesen. Vor allem hier gilt es zu bremsen. Dazu braucht es eine längere Lebensarbeitszeit. Und natürlich den Mut, am Verwaltungsapparat zu sparen.

derStandard.at: Lieber 17 Schuldenbremsen als eine Fiskalunion?

Stiefel: Ja, bei der Fiskalunion habe ich sehr große Zweifel. Es wird ohnehin schon viel in Brüssel entschieden. Das einzige, was den Ländern noch geblieben ist, ist ihre Budgethoheit. Die Deutschen würden ja ohne weiteres über das Budget von Griechenland oder Portugal bestimmen, aber ihr eigenes, das wollen sie selber machen.

Wahrscheinlicher ist da ein Kerneuropa. Die Eurogruppe beziehungsweise auch die Triple-A-Staaten treffen sich öfter als der Rest der Union und sprechen sich mehr ab. Deutschland übernimmt die Führungsrolle. Historisch ist das eigentlich das, was man nicht wollte. Die EWG wurde eigentlich zu dem Zweck gegründet, die Macht Deutschlands am Kontinent zu bändigen.

derStandard.at: Die EU ist allgegenwärtig - aber kaum einer bezeichnet sich als Europäer. Warum?

Stiefel: Weil Europa so heterogen ist. Das macht seine Stärke aus, das sollte man auch nicht verändern. Europa ist ein kreativer Kontinent. Anders als in den USA, wo man in New York wie Los Angeles das gleiche Produkt verkaufen kann, müssen sich die Europäer täglich mit anderen Kulturen auseinandersetzen. Zudem gibt es keine europäische Zeitung, die überall gelesen wird, es gibt keinen TV-Sender. Die Amerikaner haben mit CNN oder der New York Times eine gemeinsame Klammer. Die haben wir nicht.

derStandard.at: Ihr Resümee?

Stiefel: Trotz allem Krisengerede: Ich halte die EU für ein sehr stabiles und zukunftsträchtiges Projekt. Ich lehne mich sogar so weit hinaus, dass das 21. Jahrhundert jenes Europas ist. Die USA haben selbst größere Probleme, und China ist eine Diktatur, dessen zukünftiges Handeln nicht berechenbar ist. Auch wenn die Form des Gebildes EU nicht absehbar ist, es ist eine ungeheure Dynamik, die da dahintersteht. (sos, derStandard.at, 6.12.2011)