Ein Wiener inmitten von Hühnern. Nahe der koreanischen Metropole Seoul lebt eine Gemeinschaft im Einklang mit der Natur.

Foto: Kollenberg

Mark Kolesik lebt in dieser Kommune, die sich von der koreanischen Konsumwelt vollständig verabschiedet hat.

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Mit festem Griff packt Mark Kolesik den Futtersack, klappt die Türsperre zurück, sagt "Guten Tag" und tritt durch die zurückschwingende Maschendrahttür in den Hühnerstall. "Auch Hühner werden hier im Dorf beim Betreten des Stalls begrüßt", sagt er.

Dutzende Hennen umringen den 22-Jährigen sogleich. Er dreht eine kurze Runde durch den rund zehn Quadratmeter großen Verschlag und füllt jeden der acht Futtertröge mit Biofutter. Sauber aufgereiht fangen zwei, drei Hähne und bis zu 150 Hennen an zu picken. Bis alle Hühner versorgt sind, wiederholt sich diese Szene rund fünfzigmal. Dann ist Marks Tagespensum erfüllt.

Der junge Wiener ist für drei Monate Volontär im südkoreanischen Ökodorf Sanan, rund 80 Kilometer entfernt von der Zwölf- Millionen-Metropole Seoul. "Sanan ist ein Yamagishi-Dorf", sagt er. Die 14 Einwohner gehören einer ursprünglich aus Japan stammenden Bewegung an, die fast vollständig auf persönlichen Besitz verzichtet und sich dem harmonischen Zusammenleben mit der Natur verschrieben hat.

Anbauen oder tauschen

Die Dorfbewohner haben sich von der koreanischen Konsumwelt vollständig verabschiedet. Statt nach der Büroarbeit ins Einkaufszentrum oder ins Café zu gehen, haben sie sich für ein Leben in einer Art Kommune entschieden. Jeder hat seine Aufgabe, ob in der Dorfküche, auf dem Biogemüseacker oder im Hühnerstall.

Fast alles, was sie zum Leben brauchen, wird von den Bewohnern selbst angebaut. Manche Lebensmittel wie Fleisch und Fisch tauschen sie mit anderen Dörfern. Die eigenen Hühner werden nicht gegessen. Hin und wieder fährt ein Dorfbewohner nach Seoul, um für die Gemeinschaft einzukaufen.

Das Geld dafür stammt aus dem Eierverkauf. Eier sind die Haupteinnahmequelle des Dorfes. Rund 30.000 Hennen legen täglich mehrere Tausend Eier. Am Vormittag hilft Mark den koreanischen Kollegen bei der Eiersuche. Durch jeden Stall gehen sie. Nach dem Einsammeln werden die Eier gewaschen, per Hand einzeln überprüft und verpackt - in der dorfeigenen Verpackstation.

Geliefert werden die Bioeier an die umliegenden Dörfer, in die Hauptstadt Seoul und "prinzipiell an jeden, der Eier von uns haben möchte" , erklärt Yoon Seong-yeol. Er ist so etwas wie der Dorfälteste in Sanan. Früher - er spricht von "damals, vor 1985" - war er Lehrer für Biologie. Heute kümmert er sich darum, dass die Siedlung "läuft", dass die Volontäre aus aller Welt beschäftigt werden und darum, Besucher und Journalisten über das Areal zu führen.

Hinter den Wohnhäusern und der Dorfküche beginnt der Arbeitsbereich. In blau gestrichenen Baracken gackert die Lebensader des Dorfes vor sich hin.

"Die Hühner fühlen sich hier besonders wohl, weil wir sie mit Respekt behandeln", erklärt der Dorfälteste. Anders als in vielen anderen Hühnerfarmen wachsen die Küken in Sanan komplett ökologisch auf. Sie haben relativ viel Platz und werden nicht mit Medikamenten behandelt: Eier und Fleisch sind damit voll biologisch.

Aktion scharf gegen Krankheit

Damit keine Krankheiten eingeschleppt werden, wird jedes Fahrzeug beim Einfahren desinfiziert. Auch die Schuhsohlen werden immer wieder in Desinfektionsmittel getaucht. Kranke Hühner könnten die Lebensgrundlage der Menschen hier bedrohen.

Der Lebensentwurf der Bewohner des Ökodorfes liegt im Trend, könnte man meinen, in Zeiten einer globalen Finanzkrise und täglich weiter schwindendem Vertrauen in das kapitalistische Wirtschaftssystem. Das täuscht. "In den letzten drei Jahren sind es nicht wirklich mehr Leute geworden, die sich für so ein Leben entscheiden", sagt Yoon Seong-yeol.

Die älteren Dorfbewohner leben seit Mitte der 1980er-Jahre hier. Im Rahmen der Demokratisierung Südkoreas hat sich die Yamagishi-Bewegung aus Japan auch in der Nähe von Seoul niedergelassen. "Zu der Zeit haben sich vor allem Studenten für uns interessiert", sagt Yoon Seong-yeol.

Weltweit hat sich die Bewegung Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ausgebreitet. Im deutschsprachigen Raum gibt es nur in der Schweiz ein Yamagishi-Dorf. "Aus Deutschland hatten wir Freiwillige hier", strahlt Yoon Seong-yeol.

Dann dreht er sich zu Mark aus Österreich um und erzählt, wie er angefangen hat, sich für die Bewegung zu interessieren: Auch er sei zu dem Zeitpunkt 22 gewesen. (Malte E. Kollenberg, DER STANDARD Printausgabe, 1.12.2011)