Auf einer viel abstrakteren Ebene als jener der Deckelungshöhen und Durchrechnungszeiträume geht es bei der laufenden Pensionsdebatte um ein Prinzip, über das sich nicht nur Leitartikel, sondern Bibliotheken schreiben ließen (und auch schon geschrieben worden sind): das Prinzip der Gerechtigkeit.

Sowenig Regierung und ÖGB sonst auf einen grünen Zweig kommen konnten - wenigstens in ihrer Überzeugung, ein gerechtes Anliegen zu vertreten, sind sie sich einig. Eine Nichtreform des Pensionssystems wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber den Jungen, sagt die eine Seite.

Nein, entgegnet die andere: Die Ungerechtigkeit läge vielmehr darin, dass die flagrante Ungleichverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer durch diese Reform verschärft würde. Versicherungsmathematische und demografische Laien, zu denen sich der Verfasser dieses Kommentars zählt, stehen bei ihrer Meinungsbildung dann vor der delikaten Aufgabe, sich aus widersprüchlichstem Zahlenmaterial eine Überzeugung zurechtzimmern zu müssen.

Von den Streitparteien ist dabei wenig Hilfe zu bekommen. Auf das Argument des ÖGB, vor 2010 seien überhaupt keine Maßnahmen erforderlich, ist die Regierung nicht eingegangen. Dem Argument der Regierung, gegen die Bevölkerungsentwicklung lasse sich nicht demonstrieren, hat der ÖGB kein schlagendes Argument entgegengehalten.

Dass die Kontrahenten außerstande waren, in solch elementaren Fragen zu einer Übereinkunft zu finden, ist nicht nur ein österreichisches Novum. Es verweist auch darauf, dass diese Kontroverse in einem unbehaglichen Kontext sozialer Unruhen in vielen europäischen Ländern und im Rahmen einer Globalisierungsdebatte stattfindet, in der viele Menschen eine Zunahme von Ungerechtigkeit als charakteristische Erscheinung des Zeitgeistes empfinden. Eine Verschärfung der Arbeitsbedingungen in vielen Branchen, die Ungerechtigkeit einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und oft obszön wirkende Einkommensunterschiede nähren und verstärken diesen Eindruck.

Um diese Entwicklung he^rum verschärfen sich die argumentativen Gegensätze zwischen einem "neoliberalen" (oft, aber nicht immer mit "angloamerikanisch" gleichzusetzenden) und einem traditionell sozialstaatlichen (oft, aber nicht immer mit "kontinentaleuropäisch" gleichzusetzenden) Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.

Während die einen auf einen durch den Staat vermittelten Ausgleich zwischen Arm und Reich setzen, sehen die anderen "Gerechtigkeit" nur dort gewährleistet, wo sich der Staat aus der freien Konkurrenz der Kräfte so weit wie möglich zurückzieht. Um diese widersprüchlichen Ansichten nicht unversöhnt nebeneinander stehen zu lassen, ^wäre es angezeigt, sich der Grundlage eines jeden Mediationsprozesses zu besinnen.

Erst muss einmal anerkannt werden, dass in den Ansprüchen und Forderungen des jeweils anderen ein guter Kern verborgen liegt. Globalisierungsbefürworter und Wirtschaftsliberale sind nicht nur Apologeten der Gier (obwohl es auch solche unter ihnen gibt). Wer den britischen Economist, deren Zentralorgan, liest, wird feststellen, dass dessen Argumentation von einem manchmal fast schon rührenden Glauben an die Verbesserbarkeit der Welt durch Freihandel getragen ist.

Umgekehrt wird aus der Sicht einer neoliberalen Staatsphobie viel zu oft übersehen, dass das Wesen des europäischen Sozialstaates eben nicht darin besteht, möglichst vielen trägen Existenzen auf Kosten der Fleißigen ein angenehmes Leben zu verschaffen.

Wenn sich Neoliberale und "Sozialstaatler" (deren Rollen in abgemilderter Form von der österreichischen Regierung und dem ÖGB gegeben werden) darauf einigen könnten, dass sie das gemeinsame Ziel der Gerechtigkeit teilen, wäre dies ein großer Schritt nach vorn. Und für die Arbeit, diese Abstraktion der "Gerechtigkeit" in konkrete Deckelungshöhen und Durchrechnungszeiträume umzuwandeln, wäre es eine gute Voraussetzung. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.6.2003)