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„Wenn sich Ärzte nicht als fehlerlos sehen, menschliche Größe zeigen und sich schneller entschuldigen würden, dann würde es sicher weniger Beschwerden geben".

Foto: APA/Jörg Koch

Ein älterer Patient leidet unter Gelenksabnützungen und betritt die Arzt-Ordination mit einem definierten Ziel: Er möchte kein Kunstgelenk, dafür eine Knorpeltransplantation, über die er sich bereits informiert hat. „So eine Knorpeltransplantation ist aber nur bei bestimmten medizinischen Indikatoren möglich, nicht bei allen Patienten", erklärt der Orthopäde und Präsident der Ärztekammer Niederösterreich, Christoph Reisner.

Das sei kein Einzelfall: Im Internet informieren sich Patienten vorab und gehen mit konkreten Erwartungshaltungen zum Arzt. Dadurch würde die Aufklärung der Patienten, die völlig falsche Vorstellungen haben, längere Zeit in Anspruch nehmen. Eine Kommunikation, die zwar für eine funktionierende Arzt-Patienten Beziehung wichtig ist, aber von Krankenkassen nicht honoriert wird. Reisner vermutet, dass es deshalb österreichweit immer mehr niedergelassene Wahlärzte gibt.

Mit der höheren Lebenserwartung steigen auch die Anforderungen an die Medizin, bis ins hohe Alter beschwerdefrei zu bleiben. „Es gibt noch diesen Mythos, dass Ärzte alles heilen können, es kann aber vorkommen, dass nach einem chirurgischen Eingriff kein Behandlungsfehler vorliegt, aber trotzdem Beschwerden bleiben", meint Reisner. Mit dem Anspruch der Patienten auf Heilung sei auch die Mentalität gewachsen, einen Schuldigen zu suchen - und damit der Gang zur Patientenanwaltschaft vorprogrammiert.

Schwammiges Gesetz

Über 9000 Fälle werden jährlich österreichweit von den Patientenanwaltschaften bearbeitet, die meisten davon betreffen die Versorgung in Krankenhäusern. In den häufigsten Fällen liege kein fachlicher Fehler vor, sondern meistens ein Missverständnis oder ein Kommunikationsmangel, was außergerichtlich geklärt werde. „Auch wenn kein medizinischer Behandlungsfehler vorliegt, sind die Beschwerden aufgrund zwischenmenschlicher Gründe berechtigt", erklärt Gerhard Bachinger, Sprecher der österreichischen Patientenanwälte. Es fließe dann zwar kein Geld, aber es gebe Anreize für Strukturverbesserungen. Dabei hätten die Patienten seiner Erfahrung nach Verständnis dafür, dass Fehler passieren können. „Kein Verständnis mehr haben sie dann, wenn sie das Gefühl haben, dass sie nicht ernst genommen werden oder etwas von den Ärzten unter den Teppich gekehrt wird", meint Bachinger. Daher sei eine offene Fehlerkultur für den Patienten sehr wichtig. „Wenn sich Ärzte nicht als fehlerlos sehen, menschliche Größe zeigen und sich schneller entschuldigen würden, dann würde es sicher weniger Beschwerden geben", konstatiert Bachinger. 

Der Vorwurf fehlender Kommunikation bezieht sich auch auf die Patientenaufklärung - die für Reisner im Gesetz zu ungenau formuliert ist. Laut diesem müssen Patienten über Vor- und Nachteile einer Operation aufgeklärt werden, der Arzt muss Alternativen ansprechen und erklären, was passiert, wenn die Operation nicht durchgeführt wird. „Im Gesetz steht außerdem, dass man auf die psychische Situation und den Intellekt des Patienten eingehen muss, es muss für den Patienten verständlich sein", meint Reisner. Man könne als Arzt jedoch nur vermuten, dass der Patient richtig aufgeklärt worden ist: "Die schwammigen Formulierungen im Gesetz sind wirklich schwer umzusetzen", kritisiert er. Auch eine vermeintlich perfekte schriftliche Dokumentation der Patientenaufklärung helfe nichts, wenn der Patient dennoch eine fehlerhafte Aufklärung kritisiert und ein Richter dem Patienten mehr Glauben schenkt.

Aufklärungsarbeit beansprucht zunehmend mehr Arbeitszeit und der medizinische Fortschritt hat dazu geführt, dass sich die Arbeitsdichte durch die verringerte Aufenthaltsdauer in den Krankenhäusern noch erhöht hat.  So werden etwa Patienten, die eine Hüftprothese erhalten haben, nach fünf Tagen entlassen - früher lagen sie vier Wochen im Krankenhaus. Der Arzt muss in der gleichen Arbeitszeit mehr Aufnahmen und Entlassungen durchführen. 

Nebentätigkeiten und Selbstüberschätzung

In der Arbeitszeitregelung hat sich nebenbei wenig getan. Mediziner arbeiten nach wie vor überdurchschnittlich lang. Derzeit dürfen Spitalsärzte in einzelnen Wochen bis zu 72 Stunden arbeiten, einzelne Dienste sind mit 32 Stunden limitiert. Ausnahmen sind die Wochenenddienste, die bis zu 49 Stunden durchgehend sein können. Das Gesetz sieht zwar Ruhezeiten vor, diese können aber oft nicht eingehalten werden. Eine im Sommer von Sozialminister Hundstorfer eingebrachte Gesetzesinitiative, die durchgehende Arbeitszeit auf 25 Stunden zu senken, wurde von einzelnen Bundesländern aus Kostengründen blockiert. 

Höhere Arbeitszeiten erhöhen jedoch die Fehleranfälligkeit. „Studien haben ergeben, dass ein Arzt nach 25 Stunden Dienst so beeinträchtigt ist, wie jemand mit 1,2 Promille Alkohol im Blut", erklärt Bachinger. Er plädiert zwar für geringere Arbeitszeiten bei Spitalsärzten, aber gleichzeitig für klare Verhältnisse: Problematisch sei nämlich, dass ein Arzt nach seinem Dienst in seine Privatordination oder in ein Privatkrankenhaus gehe und dort weiterarbeite. Etwas, das in der Luftfahrt nicht möglich sei: „Ein Pilot, der einen Überlandsflug geflogen ist, kann dann nicht bei der Konkurrenz ins Flugzeug einsteigen und gleich wieder zurückfliegen", argumentiert er. Genauso müssten die Nebentätigkeiten von Ärzten gesetzlich geregelt werden. 

Hinzu kommt oft eine Selbstüberschätzung der Ärzte. Untersuchungen haben ergeben, dass nur 40 Prozent der Piloten glauben, übermüdet ihren Job gut absolvieren zu können, bei den Ärzten waren es 60 Prozent. Und im Notfall glauben 80 Prozent der Ärzte, besonders gut zu "funktionieren", hingegen nur 60 Prozent der Piloten. 

Organisationsmängel führen zu Strafminderung 

Auch wenn ein Arzt einen Fehler macht und diesen auch eingesteht: Dem Patienten gegenüber darf er diesen - rechtlich betrachtet - nicht zugeben. Der Haftpflichtversicherung wird sonst die Möglichkeit genommen, nachzuprüfen, ob überhaupt ein Fehler vorliegt - und sie haftet dann nicht. „Ein Arzt darf hingegen sagen: Mir ist etwas passiert und es tut mir leid, die Haftpflichtversicherung wird das überprüfen", erklärt Reisner. Die gesetzliche Pflichthaftversicherung wurde erst vor wenigen Jahren für niedergelassene Ärzte beschlossen. „In anderen freien Berufen, wie etwa bei Notaren oder Rechtsanwälten, ist es schon längst üblich, haftpflichtversichert zu sein, da hinkt die Medizin nach", kritisiert der Medizinrechtsexperte Wolfgang Mazal.

Nicht nur dort hinkt die Medizin hinterher: Viele Behandlungsfehler lassen sich auf Organisationsmängel zurückführen. Jenen zwei Ärzten etwa, die im Juni 2010 einer 91-jährigen Patientin in St. Johann in Tirol das falsche Bein amputiert hatten, wurden beispielsweise die Geldstrafen in zweiter Instanz reduziert: unzureichende Sicherheitsstandards im Krankenhaus hätten den Vorfall begünstigt, so die Erklärung des Obersten Landesgerichts zur Strafminderung.

Zugleich fehlt es an einer Kooperation zwischen Mitarbeitern, wenn eine Information über einen Behandlungsschritt, den der erste Arzt gesetzt hat, nicht an den nächsten Mediziner weitergegeben wird. Daher plant die Innsbrucker Kinderklinik, in der ein dreijähriges Kind nach einer 46-stündigen Narkose an Multiorganversagen verstorben ist, eine Umstrukturierung. Die Tiroler Landeskrankenanstalten GmbH Tilak hat angekündigt, eine bessere Kommunikation und Dokumentation zwischen den einzelnen Kliniken zu realisieren. Zusätzlich sollen eine zentrale Diensteinteilung und ein fixer Kinderkardiologe auf der Intensivstation Verbesserungen bringen. 

Qualitätssicherung in Spitälern 

Viele Fehler ließen sich durch Qualitätssicherungssysteme vermeiden, ist Mazal überzeugt. „Seit Jahren bemühen sich politisch Verantwortliche und Juristen, die Krankenhäuser auf die Höhe der Zeit zu bringen, allerdings wollen sich manche dem Systemwandel verschließen, mit dem Argument, dass es auch in der Vergangenheit ohne Qualitätssicherung gegangen ist", kritisiert er. Die Anforderungen an eine moderne Organisation seien jedoch gestiegen. Krankenhäuser sind zwar rechtlich Unternehmen, aber mit anderen Unternehmen tatsächlich nicht vergleichbar, weil die Gegenstände, mit denen sich Spitaler und medizinische Organisationen befassen, höherwertiger sind: „Daher sollte die Organisationsqualität auch wesentlich höher sein als in anderen Unternehmen", meint der Medizinrechtsexperte. 

In manchen Krankenhäusern hat sich das so genannte CIRS, Critical Incident Reporting-System, durchgesetzt. Es dokumentiert kritische Ereignisse und Beinahe-Schäden, um eine offene Fehlerkultur zu institutionalisieren und die Fehlerquote gering zu halten. Bachinger ist zwar damit noch nicht zufrieden, erkennt aber einen Trend hin zu einer offenen Fehlerkultur. „Mittlerweile rufen Ärzte bei mir an, wenn sie nicht wissen, wie sie sich bei einem Fehler gegenüber dem Patienten verhalten sollen", sagt er. 

Trotz der Patientenbeschwerden ist die Zahl der Fehler, die gravierende Folgen nach sich bringen, gering, so Reisner: „Jeder, der arbeitet, macht Fehler - in Relation zur Zahl der medizinischen Behandlungen passieren aus meiner Sicht jedoch wenige."(derStandard.at, 28.11.2011)