Die dicht beschriebenen "Blätter" von Nannetti in Volterra.

Foto: Mario Del Curto/Strates, Lausanne

Maria Gugging - Es war eine Art verortetes Tagebuch: Der Pariser Romancier Nicolas Edmonde Rétif de La Bretonne, ein Zeitgenosse des Marquis de Sade, wurde zu seiner Zeit auch mit dem Beinamen "Griffon", also Kritzler, bedacht. Denn er hatte die Eigenart, allgemeine, aber auch persönlichste Lebensereignisse in die Kaimauern der Île Saint-Louis zu ritzen: Sie sollten ihm Vergangenes vergegenwärtigen, wenn er wieder einmal dort vorbeispazierte.

Den Verdacht, dass solche spontanen Inschriften nicht immer dazu gedacht waren, Parolen wie "Friede den Hütten, Kampf den Palästen" unter die Leute zu bringen, sondern dazu, unmittelbar eigene Emotionen abzuleiten, hatte auch Carolus Zangemeister. 1871 publizierte er zu den von ihm in Pompeji studierten Graffitis, wo sich neben Politischem eben auch Unmut der Sorte "Restitutus hat viele Mädchen betrogen" oder "Fluch jedem, der liebt" fand.

Der Gedanke an solche frühen Vorläufer heutiger Graffiti liegt nahe, wenn man erstmals das enorme Schriftwerk von Fernando Oreste Nannetti sieht: 70 Meter lang ist die Mauerfläche des Ospedale psichiatrico im toskanischen Volterra, die Nannetti als Patient zwischen 1959 und 1961 sowie 1968 und 1973 dicht mit Schrift übersäte. Wort für Wort kratzte er mit der Schnalle seines Gürtels in den Putz; das rudimentäre Werkzeug erklärt die eckige, etruskisch anmutende Schrift. Das Original ist heute fast vollständig verschwunden: 1978 wurde die Schließung der schlimmsten psychiatrischen Anstalten per Gesetz beschlossen - das verfallene Geisterhaus in Volterra ist heute trauriges Mahnmal für das einstige Wegsperren psychisch Kranker.

Im Museum Gugging wird Nannettis Werk daher nur mittels täuschend echter, dreidimensionaler Faksimiles sowie der schwarz-weiß Fotografien Pier Nello Manonis von 1979 und den stark romantisierenden Aufnahmen Mario Del Curtos (2006-2008) vorgestellt. Den Vergleich mit Graffitis lässt Johann Feilacher, künstlerischer Direktor in Gugging, jedoch nicht gelten. Die Klinik war schließlich Gefängnis, die jedem Patienten neben seinem Bett nur einen Quadratmeter Freiraum zugestand. Blauen Himmel sah man nur beim täglichen Hofausgang, den Nannetti (1927-1994) stumm und stetig an seinen Inschriften arbeitend verbrachte. Mit den sehr unmittelbaren, selbstermutigenden Gefängnisgraffitis sind sie aber auch nicht vergleichbar. Sie sind mehr als Beschäftigungstherapie, wirken literarisch, prophetisch. Denn Nannetti, der "Astraloberst" (in lyrischer Umformung entstand daraus der Ausstellungstitel nannetti.! sternenoffizier) glaubte, durch elektromagnetische Wellen vermittelte Botschaften zu empfangen. Rührende, aber im Hinblick auf die Geschichte der Psychiatrie auch traurige Zeugnisse.

Vor diesem Hintergrund strahlt das Haus der Künstler in Gugging umso heller. Denn die zweite Ausstellung widmet sich einem anderen manischen Schreiber und dessen heiteren Wasserfarbbildern: Dem Korec Johann...! Zu Bildern, die Korec aus Zeitungen abpauste, erdichtete er Geschichten, in die er sich selbst als Helden einflocht oder die seine Liebessehnsüchte ausdrückten. Den Inschriftierungen - ein Begriff, den der Gugginger Künstler Johann Fischer prägte - widmet man sich in der Galerie Gugging. Neben Korec und Fischer vermögen dort etwa auch Bild-Schrift-Blätter von Maria M. Balassa oder Ida Bucmann zu begeistern. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD - Printausgabe, 26./27. November 2011)