Das Mädchen-ABC der Virginia Woolf-Schule, hier im Bild der Buchstabe V: "VORNE IST DER VORNAME. VERONIKA, VIVIEN, VERA, VERENA, VIOLETTA, VRONI, VALERIE, VENUS, VIKTORIA, VIOLA, VIVI, VALENTINA, VITA UND VIRGINIA UND VANESSA."
Copyright: Virginia Woolf Schule/Ruth Devime

Foto: Virginia Woolf Schule/Ruth Devime

Zur Person:

Ilse Rollett ist Bildungsforscherin und AHS-Lehrerin. Sie war lange Zeit in der Erwachsenenbildung und als Supervisorin tätig. Seit September 2011 leitet sie das Bundesgymnasium Rahlgasse in Wien. In der Virginia-Woolf-Schule unterrichtete Rollett nie selbst. Sie war dort von 1991 bis 1994 für die Öffentlichkeitsarbeit und Begleitforschung zuständig.

Foto: Rollett

Zur Person:

Ruth Devime hat gemeinsam mit Margot Mähner, Dorothea Wettstein und Gabriele Doubek die Virginia Woolf-Schule gegründet. Sie ist seit vielen Jahren als feministische Erwachsenenbildnerin tätig.

Foto: Ruth Devime

Der Buchstabe G: GABI GEHTS GUT. IHRE GÖREN, GISELA, GUDRUN UND GERTRUDE GRINSEN
SEIT GESTERN GANZ GENIAL ...
Copyright: Virginia Woolf Schule/Ruth Devime

Foto: Virginia Woolf Schule/Ruth Devime

Und der Buchstabe Z: "ZWEI ZARTE AMAZONEN UND ZWANZIG ZAGHAFTE ZWERGINNEN ZIEHEN DURCH DIE ZEITEN. MIT IHREN ZELTEN UND ZEBRAS ZÖGERTEN SIE MIT DEN ZUG ZU FAHREN. AM HORIZONT SITZEN ZIEGEN UND TANZEN ZUR ZIEHAHARMONIKA. ZWISCHEN ZEHN UND ZWÖLF KAMEN DIE AMAZONEN UND ZWERGINNEN ZU DEN ZIEGEN UND ZUSAMMEN FEIERTEN SIE EINE ZEREMONIEN UNTER ZARTGRÜNEN ZITRONENBÄUMEN......."
Copyright: Virginia Woolf Schule/Ruth Devime

Foto: Virginia Woolf Schule/Ruth Devime

Die Forderungen nach mutigen Bildungsreformen sind derzeit besonders laut zu hören. Doch wie ergeht es Bildungseinrichtungen in Österreich, die pädagogisch tatsächlich neue Wege bestreiten? Die Virginia Woolf-Schule im Wiener WUK war eine davon und beeinflusste mit ihrem radikal-feministischen Ansatz auch über ihre aktive Zeit hinaus das Bildungssystem in Österreich. Zehn Jahre später (die Schule existierte von 1991 bis 2001) schaffen es feministische Bildungsziele kaum mehr in die Öffentlichkeit. Zwei ehemalige Schulfrauen rekapitulieren das bis heute im deutschsprachigen Raum einmalige feministische Schulprojekt. 

Neue Methoden

"Neue Worte und neue Methoden" - so hat sich die britische Schriftstellerin Virginia Woolf die Förderung junger Mädchen vorgestellt. In ihrem Essay "Drei Guineen" forderte die feministische Ahnfrau ein alles neu für die Mädchenbildung auf dieser Welt. Vermutlich hätte sie sich kaum vorstellen können, dass rund 50 Jahre später tatsächlich eine Grundschule in Wien gegründet wurde, die stolz ihren Namen trug und ihre Grundsätze hochhielt.

Selbstverteidigung statt Turnen

Was in der Virginia-Woolf-Schule gelehrt wurde war jedenfalls nicht Sachkunde, Turnen oder Englisch. Es gab keine Fächer sondern Unterrichtsprinzipien: dazu zählte neben Frauengeschichte, Frauensprache und dem Aufspüren des alltäglichen Sexismus auch Selbstverteidigung (Wendo) und Arabisch. "Die Sprache haben sich die Mädchen selbst ausgesucht", so die ehemalige Schulfrau Ruth Devime nicht ohne Stolz.

Die Erwachsenenbilderin gehörte zu den Gründerinnen der Virginia Woolf-Schule. Den Anstoß für eine feministische Mädchenschule gaben allerdings die betroffenen Mütter selbst. Deren Töchter waren in der koedukativen Schule unzufrieden und auf dem besten Wege, schon vorhandene Fähigkeiten durch das Regelschulsystem wieder zu verlernen, erläutert Devime. Außerdem waren sie ständig Störungen von Buben ausgesetzt.

Gesellschaftlicher Rückenwind

Der Kritik an der Koedukation schlossen sich zu Beginn der 1990er Jahre auch feministische Schulforscherinnen an. Sie gaben zu bedenken, dass 15 Jahre nach der gesetzlichen Einführung der Koedukation in Österreich die Erreichung der Chancengleichheit für Mädchen noch in weiter Ferne lag. Der Virginia-Woolf-Schule kam zugute, dass in den 1990ern Mädchenförderung sehr ernst genommen wurde, erläutert Ilse Rollett, die damals für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war.

Der gesellschaftliche Trend sprach also für die neue Grundschule und auch von behördlicher Seite wurden dem Projekt keine Steine in den Weg gelegt. Formal genossen die Schülerinnen Heimunterricht, tatsächlich wurden sie ganztags in den über 200 m2 großen Räumlichkeiten des Frauenzentrums in Wien unterrichtet.

In Bezug auf das pädagogische Konzept ließen sich die Schulfrauen von Alternativschul-Lehrplänen, die es in Deutschland bereits gab, inspirieren. "Die haben wir quasi mit der feministischen Brille überarbeitet," so die heutige Direktorin der AHS Rahlgasse in Wien.

Das Lernen sollte frei und individuell sein, soviel stand fest. "Wenn frau eine Gruppe zwischen sieben und zehn Mädchen betreut, braucht es keinen Zwang. Die Mädchen wollen ja lernen", so die beiden Schulfrauen unisono. Besonders wichtig sei es ihnen gewesen, auf die Bedürfnisse und Lebenswelten der Mädchen einzugehen. Die "kleinen Frauen" sollten nur an sich selbst gemessen werden, und nicht an Buben oder sonstigen patriarchalen Maßstäben. Die Noten sollten sich die Mädchen, nach reifer Diskussion in der Gruppe, selbst geben. Die meisten Betreuenden waren keine ausgebildeten Pädagoginnen, sondern Frauen, die einen Fachbereich besonders gut beherrschten und ihn den Mädchen mit Begeisterung vermitteln konnten.

Gewaltschutz

Einen großen fachlichen und auch ideologischen Stellenwert nahm die Selbstverteidigung ein. Die Mädchen bekamen über vier Jahre hinweg zweimal die Woche Unterricht in der von Frauen entwickelten Kampfsportart Wendo ("Weg der Frauen"), um sich bei Bedarf gegen Gewalt und sexuelle Übergriffe von Männern zur Wehr zu setzen. Auch andere Schulklassen nutzten dieses Angebot im Frauenzentrum. Für Devime ist Männergewalt gegenüber Frauen bis heute eines der größten Probleme in der Koedukation: "In der Schule sind Mädchen den Übergriffen von Burschen schutzlos ausgesetzt. Die Lehrer und Lehrerinnen finden Ausreden wie: er hat es ja nicht so gemeint, oder: sie kann sich schon wehren. Heute gibt es flächendeckend Frauenhäuser in Österreich. Nur die Mädchen lässt man in dieser Situation allein."

Nicht nur deshalb war es ihnen wichtig, den Mädchen die Bedeutung der Beziehungen unter Frauen näherzubringen. Statt einem Betragen hatten die Mädchen in ihrem Zeugnis deshalb eine Note für "mädchenfreundliches Verhalten" stehen: "Ich war und bin überzeugt: wie Frauen miteinander tun, verändert die Welt", so Devime. Ihr feministisches Ziel sei es auch nie gewesen, so etwas wie Gleichstellung zwischen den Geschlechtern zu erreichen. Ihr Herz schlägt für eine matriarchale Gesellschaft, in der Frauen und Kinder zusammenleben und Väter auch leben können, aber keine Entscheidungsmacht haben.

Konflikte und Druck

Solche radikal-feministischen Ansichten hätten sie natürlich des Öfteren in Konflikt mit den Eltern, vor allem den Vätern der Mädchen gebracht. Das gibt Devime gerne zu. Für sie ist es nun einmal das bessere Lebenskonzept, wenn Mädchen und Mütter die relevanten Entscheidungen treffen und nicht die Männer, wie im Patriarchat. Erwartungsdruck auf die Mädchen habe es jedenfalls nicht gegeben: "Mir war das wurscht. Gut sollte es ihnen gehen und sie sollten wissen, wer sie sind. Bei manchen ist mir das sicher besser gelungen, als bei anderen."  Rollett gibt zu bedenken, dass es sich bei der Virginia-Woolf-Schule mit den Schulfrauen, den Schülerinnen und den Eltern um eine sehr kleine soziale Gruppe gehandelt habe: "Das Korrektiv hätte größer sein können."

Das Vermächtnis

Zehn Jahre nach dem Ende der Virginia-Woolf-Schule ist die Situation an Österreichs Schulen jedenfalls eine andere als vor ihrem Schulprojekt, da sind sich die Schulfrauen einig. Vieles von dem, was in ihrer Schule praktiziert wurde, sei in das Regelschulwesen eingeflossen, meint Rollett: "Es ist heute viel leichter, in Schulen die Geschlechter einmal kurzfristig oder für bestimmte Fächer zu trennen." Zudem habe die Genderthematik zu einem gewissen Grad auch in der PädagogInnen-Ausbildung Einzug gehalten. Devime verweist darauf, dass der Ruf der "radikalen Virginia-Woolf-Schule" engagierten Lehrerinnen in der Regelschule einen Freiraum verschaffte, mit dem sie arbeiten konnten. "Und es gibt ja auch wirklich sehr viele coole Weiber an den österreichischen Schulen", lobt die Erwachsenenbildnerin ihre nicht ganz so radikalen Kolleginnen. Allein: Die Chancen für die Gründung einer feministischen Grundschule in der Gegenwart schätzt Rollett für gering ein: "Die Mädchen heute denken, dass sie keine spezielle Förderung mehr brauchen." (Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 27.11.2011)