Wien (APA) - Die "pragmatische Position" der politischen Führung der Exil-Tibeter gegenüber China hat der Präsident des exil-tibetischen Parlaments bei seinem Aufenthalt in Wien unterstrichen. "Wir streben nach Autonomie, nicht nach Unabhängigkeit", erklärte Penpa Tsering in einem Pressegespräch. Eine Auflösung Chinas "wäre gefährlich für die ganze Welt", doch es sei "an der Zeit, dass sich China Schritt für Schritt demokratisiert". Der Volksrepublik, die auch bei ihren Nachbarn in Südostasien "aggressiv" auftrete, "fehlt es an moralischer Macht".

Penpa Tsering, nach dem Dalai Lama, dem geistlichen Oberhaupt, und dem Regierungschef der drittwichtigste Repräsentant der in aller Welt verstreuten tibetischen Gemeinschaft, hält sich seit Mittwoch auf Einladung der Grünen zu Gesprächen in Wien auf. An einer Begegnung mit Parlamentariern nahmen nur Vertreter von Grünen und ÖVP teil. Die Tibet-Aktivistin Tseten Zöchbauer merkte an, sie sei "traurig" wegen der Kontaktverweigerung der SPÖ, namentlich von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ), in der Sache der Tibeter. "Es ist auch wichtig, was die Davids zu sagen haben, nicht nur die Goliaths", sagte sie mit Blick auf China.

Am Donnerstag führte der tibetische Exil-Parlamentspräsident auch Gespräche im Außenministerium, wo er mit dem Leiter der Menschenrechtsabteilung zusammentraf. "Interessante Fragen, auch im geopolitischen Kontext", seien erörtert worden, sagte Penpa Tsering zur APA. Im Mediengespräch erklärte er, Tibet habe Jahrhunderte lang einen "Puffer" zwischen den Regionalmächten China und Indien gebildet. Tibet könnte "eine Brücke" sein. Heute fordern die Tibeter keine Abtrennung von China, "doch wir haben oft den Eindruck, die Chinesen wollen Separatisten aus uns machen", spielte er auf die Zurückweisung aller tibetischen Lösungsvorschläge an.

Penpa Tsering will den Dialog

"Auf keinen Fall wollen wir China schaden", betonte Penpa Tsering. "Wir sind interessiert an Vertrauensbildung und Dialog." Doch durch die negativen Reaktionen Pekings vor allem gegenüber der anerkannten Persönlichkeit des Dalai Lama "ist China unser bester PR-Agent", meinte er. Allerdings sei bedauerlich, dass die Welt kaum auf die verzweifelten Selbstverbrennungen tibetischer Mönche reagierte. Die Pekinger Führung schiebe dem Dalai Lama die Schuld an allem zu. "Doch die aufgeklärten, intelligenten Chinesen sehen in ihm den Schüssel für eine Lösung."

Was die Nachfolge des religiösen Oberhaupts der Tibeter betrifft, so ist laut Penpa Tsering die Position des Dalai Lama klar. Wenn die Chinesen ihn nicht nach Tibet zurückkehren lassen, so werde die Reinkarnation, also sein Nachfolger, aus einem freien Land kommen. "China hofft, dass mit dem Dalai Lama die Causa Tibet stirbt." Doch dieser erfreue sich bester Gesundheit. "Es besteht Hoffnung, dass er die chinesische KP überlebt", so der tibetische Parlamentschef lakonisch. Er erinnerte daran, dass der - von China eingesetzte - Panchen Lama, die zweithöchste buddhistische Autorität der Tibeter, vor kurzem in einer tibetisch besiedelten Region von der Bevölkerung nicht empfangen wurde.

Penpa Tsering, der in Indien im Exil aufwuchs, zeichnete ein beunruhigendes Bild über die Entwicklung in seiner Heimat Tibet. "Die demografische Aggression", die massive Einwanderung von Han-Chinesen, bewirke "eine Okkupation vor allem der Städte, wo sie Geld machen können". Hand in Hand damit gingen Bestrebungen, die tibetische Bevölkerung zu assimilieren. Der Verlust der tibetischen Sprache drohe, denn China fördere massiv Mandarin - auch in anderen Gebieten der Volksrepublik, wo Minderheiten leben. Klöster würden geschlossen, Mönche zur Umerziehung fortgebracht. Die Bewegungsfreiheit der Lamas werde unterbunden.

China nütze Tibets Ressourcen aus

Besonders bedroht sieht der tibetische Politiker das ökologische Gleichgewicht. Zu 60 Prozent ist Tibet Grasland. Ein großer Teil der nomadischen Bevölkerung werde in kompakte Siedlungen transferiert, der Staat reklamiere das Weideland, baue große Infrastrukturprojekte, von denen die heimische Bevölkerung kaum profitiere. Die Entvölkerung ländlicher Gebiete gefährde Mensch und Natur. Die Nomaden, die keinen anderen Beruf gelernt haben, werden sozial entwurzelt. Die Umweltveränderungen auf dem tibetischen Plateau gefährden auch die Nachbarstaaten, so Penpa Tsering. Zudem beute China die Ressourcen Tibets aus. Peking habe zugegeben, dass der Eisenbahnbau von Chengdu nach Lhasa "eine politische Entscheidung" war.

Auf seiner Europa-Reise will der Politiker die Positionen in der Tibet-Frage ausloten. Er besucht auch die Niederlande, die EU in Brüssel und Italien. In Österreich gebe es "viel Sympathien, aber keine Position" zu Tibet, meinte er. Die Selbstverbrennungen in Tibet seien Ausdruck von Verzweiflung und Frustration. Die Grüne Europa-Abgeordnete Eva Lichtenberger erinnerte an eine parteiübergreifende Initiative im Straßburger Parlament. Ihre Grüne Parteikollegin Madeleine Petrovic kann sich angesichts der Berührungsängste der SPÖ des Eindrucks nicht erwehren, dass China Druck auf das österreichische Parlament ausübe.

Penpa Tsering, 2011 nach weltweiten Wahlen in seinem Amt bestätigt, repräsentiert neben dem erst 36-jährigen Ministerpräsidenten Lobsang Sangay, einem Juristen mit Harvard-Studien, die neue Führungsgarnitur der Exil-Tibeter. Zöchbauer, Chefin von SOS Tibet Austria, freut sich über die junge Politikergeneration, die jetzt am Ruder ist - "bestens ausgebildet, in demokratischen Verhältnissen im Westen aufgewachsen, zielbewusst". Ihre Conclusio: "Die tibetische Bewegung ist motivierter denn je." In Tibet, das 30 Mal größer ist als Österreich, leben rund 5,5 Mio. Tibeter; in Indien etwa 100.000, in Nepal und in Nordamerika je 20.000, in Europa bis zu 10.000. Die tibetische Community in Österreich zählt circa 280 Mitglieder. (APA)