Wer die Aussendungen der Ärztekammer verfolgt, muss den Eindruck gewinnen, dass unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps steht und Patientenrechte von der Politik mit Füßen getreten werden: So blicken aus den Zeitungen verzweifelte Nackedeis, die die Bevölkerung vor der Einführung der elektronischen Gesundheitsakte warnen, da fällt die absurde Behauptung, dass wegen der Sparpläne im AKH 30 Prozent der Operationen ausfallen müssten, da warnt Präsident Dorner höchstpersönlich vor den Unfallgefahren, die Radfahrer heraufbeschwören, und kann es medizinisch nicht verantworten, als Autofahrer in der Einbahnstraße Radlern ins Auge blicken zu müssen.

Österreich ist offenkundig voller Gesundheitsrisken, und - so die Funktionärsbotschaft - nur die Ärzteschaft warnt die Politik und zeigt den Patienten mit paternalistischer Strenge, was für sie gut ist. Erkenntnisse der Wissenschaft, wie beschränkt die Möglichkeiten kurativer Medizin zur Steigerung von Gesundheit und Wohlbefinden in Wahrheit sind, werden folgerichtig ausgeblendet, weil sie die Bedeutung des eigenen Standes relativieren würden. Ein Fokus auf Gesundheitsförderung, die Stärkung der Selbstbestimmung der Patienten und ein transparenter Umgang mit Gesundheitsinformation stehen daher nicht auf der Kammer-Agenda.

Bei Debatten zu diesen Themen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, schiebt Präsident Dorner aber interessanterweise den Patienten die Schuld an gescheiterten Projekten zu, wie jüngst in der Sitzung der Gesundheitsplattform zu beobachten war: Die Autorin dieser Zeilen bemängelte, dass es der Wiener Ärzteschaft nicht gelungen sei, trotz beträchtlicher Geldmittel, die im Rahmen eines Reformpoolprojektes investiert worden waren, eine relevante Zahl an Diabetespatienten in die zukunftsweisende Behandlungsstruktur "Therapie aktiv - Diabetes im Griff" einzubinden. "Die Patienten wollen halt nicht", kommentierte Dorner achselzuckend die magere Erfolgszahl von 352 Neueinschreibungen in diesem Jahr. Er verschwieg, dass der Misserfolg vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass nur 137 Ärzte am Projekt teilnahmen. Auf die Frage, warum die Kammer ihr Geld nicht in Werbung für das Diabetesprogramm investieren wolle, statt gegen Elga zu polemisieren, blieb Dorner die Antwort schuldig.

Ein Blick nach Dänemark könnte Erkenntnis und mehr Gelassenheit in der Debatte um Elga bringen: die elektronischen Gesundheitsdaten sind patientenfreundlich, streng datengeschützt und erlauben jedem Dänen seine persönliche Gesundheitsseite aufzurufen. Außerdem sind die Resultate von Qualitätskontrollen in den staatlichen Spitälern öffentlich zugänglich. Österreichische Patienten sind bei der Wahl des Spitals weiterhin auf unzuverlässige Empfehlungen angewiesen, denn Daten zu Komplikationsraten, Mortalität, Wiederaufnahmen und Patientenzufriedenheit werden nicht veröffentlicht. Die Verfügung über die eigene Krankengeschichte und Fakten zur Behandlungsqualität ermöglichen es den Patienten jedoch, ihre Entscheidungen informiert zu treffen und auf Augenhöhe mit dem Gesundheitspersonal zu kommunizieren. Auf diesen Diskurs sind hiesige Ärztefunktionäre sichtlich noch unvorbereitet.

Stattdessen setzt man auf Patientenverunsicherung. So auch beim AKH: Richtig ist, dass die Spitalsambulanzen so lange unverzichtbar und übervoll sind, als im niedergelassenen Bereich benutzerunfreundliche Öffnungszeiten den Weg ins Spital logisch machen. Richtig ist aber auch, dass Wien ein Überangebot an Akutbetten und eine Ärztedichte hat, die weit über dem Niveau vergleichbarer Weltstädte liegt. Das AKH ist eines der teuersten Spitäler in Europa. Effizienz ist also dringend gefordert. Beispiele: Umstellung auf den zentralen Einkauf aller Medikamente und Medizinprodukte, Auslastung von OP-Sälen bis in die Abendstunden; Verstärkung der Nachtdiensträder in den Disziplinen mit großem Bedarf, zulasten jener, wo es kaum Notfälle gibt; restriktive Nebentätigkeitsregelungen für Ärzte und die Verpflichtung, Privatpatienten im öffentlichen Spital statt auf der Goldenen Meile zu behandeln.

Diese Vorschläge sind lange bekannt und scheitern genauso lange am Widerstand der Ärztekammer. Statt sie in Zeiten budgetärer Not im Patienteninteresse endlich umzusetzen, werden populistische Spendenaufrufe gemacht und der Verein "Rettet das AKH" zur Ablenkung von den wahren Problemen gegründet. (Sigrid Pilz, DER STANDARD, Printausgabe, 24.11.2011)