Komplexe Ströme erforscht Marie-Therese Wolfram.

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"Irrationales Verhalten wie etwa eine Massenpanik wird immer unberechenbar bleiben", schickt die Mathematikerin Marie-Therese Wolfram voraus. "Aber an Simulationen von Menschenmassen in Bewegung und sinnvollen Lenkungsstrukturen wird intensiv gearbeitet."

Bisher sind solche Simulationen aufwändig und teuer, weil große Rechnerkapazitäten lange gebunden werden. Im gängigen Teilchenmodell wird jeder Mensch als Teilchen mit bestimmten Eigenschaften berechnet, auf den Kräfte und Annahmen wirken. Millionen Menschen bedeuten Millionen Gleichungen.

Die Hertha-Firnberg-Stipendiatin am Institut für Mathematik der Uni Wien will mit partiellen Differenzialgleichungen schneller zum Ziel kommen. Der Einsatz der Gleichungen in einem Dichtemodell soll bei der Prognose von Menschenmassen ebenso angewendet werden wie für die Konstruktion von Nanoporen. Die beiden Einsatzgebiete verbinden die Gleichungen dahinter: "Mathematisch gesehen, ist der Übergang vom Teilchenmodell zum Dichtemodell - vom exakten Modell zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung - entscheidend."

Im Dichtemodell erfolgt der Blick gleichsam von weit oben. Es sind keine einzelnen Menschen mehr zu sehen, sondern nur ihre Verteilung. Mathematisch beschrieben wird nur mehr der Bewegungsablauf einer Menschenmenge. "Modellierung bedeutet immer die Vereinfachung von Wirklichkeit. Der Ansatz ist sicher nur für große Menschenmassen wie etwa die Pilgerströme in Mekka einsetzbar", steckt die Forscherin die Grenzen ihrer Arbeit ab.

Im Rahmen ihres Projekts wendet sie das mathematische Prinzip auch auf biophysikalische Vorgänge in den Ionenkanälen der Zelle an. Der Transportweg ist Vorbild für die industrielle Anwendung in Nanoporen. Für den Nachbau müssen die komplexen Ladungsmuster und Strukturen erst einmal vereinfacht werden. Mit dem GSI-Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt entwickelt Marie-Therese Wolfram eine Software, die aufwändige Experimente in die "richtige Richtung" zu lenken hilft.

"Die Mathematik ist eine schöne Welt mit klaren Strukturen und Regeln, in der Aussagen wahr oder falsch sein können", beschreibt die 29-Jährige ihr Fachgebiet. Und rundum warten viele Anwendungen auf elegante, einfache und wahre Aussagen. Technische Mathematik absolvierte sie an der Johannes-Kepler-Universität Linz, und während des Doktorats war sie Mitarbeiterin an der Uni Münster, der UCLA und am Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM) der Akademie der Wissenschaften.

2008 bis 2010 arbeitete sie als Postdoc am Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics in Cambridge und ließ dort die Atmosphäre einer Stadt auf sich wirken, die gänzlich vom Uni-Standort geprägt ist: "Forschung wird einem dort so leicht wie möglich gemacht - mit Freiräumen und größtmöglicher Flexibilität."

Die Oberösterreicherin, aufgewachsen und "dahoam" in einem Dorf nahe Grieskirchen, bezeichnet sich selbst als unsteten Geist: "Wenn ich drei Wochen an einem Platz bin, werde ich wieder unruhig." Das kommt ihrer Forschung entgegen, für die sie beweglich und vernetzt bleiben muss. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.11.2011)