"Flexodox" Schwarz: "Man kommt nicht raus. Keine Chance. Man bleibt Jude!"

Rafael Schwarz, geb. 1977 in Wien, besuchte die Zwi-Perez-Chajes-Schule der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Er studierte Kommunikationswissenschaften und Judaistik an der Universität Wien. Nach akademischen und beruflichen Zwischenstationen in Tel Aviv und New York arbeitet er seit Ende 2005 im Dorotheum. Nebenbei hält er Vorlesungen zum Thema "Judentum zeitgenössisch - Fragen zum Judentum heute".

 

Foto: Metro-Verlag

Mit Rafael Schwarz sprach Mia Eidlhuber.

STANDARD: Sie haben ein Buch geschrieben, es heißt: "Darf man Juden Ezzes geben? Was Sie schon immer über das Judentum wissen wollten, sich aber nicht zu fragen trauten". Was hat Sie dazu bewogen?

Schwarz: Ich habe in Wien Judaistik studiert, und als die Leute draufgekommen sind, dass ich Jude bin, musste ich als Student mehr Fragen beantworten als manche Professoren. Es gibt viele Fragen zum Judentum, die einem dort nicht beantwortet werden, und noch mehr Fragen, die gar nicht gestellt werden. Daraus hat sich, lange nach meinem Studium, mit dem Institutsvorstand eine Vorlesung ergeben. Sie war als kleines Seminar geplant und wurde zur Vorlesung, weil das Interesse so groß war. Nach meinem Vortrag "Jewish for Dummies" kam der Metro-Verlag auf mich zu. Ich wollte nie ein Buch schreiben.

STANDARD: Wie kam es zum Titel?

Schwarz: Ein Kollege findet den Titel deshalb so gut, weil man glaubt, ich zitiere ihn, "Juden überhaupt keine Ratschläge geben zu dürfen", weil sie als überheblich gelten. Daran habe ich selbst in der Titelwahl nicht gedacht. Es wird auch geglaubt, dass Juden weltweit vernetzt sind, was nicht einmal in Wien der Fall ist. "Das auserwählte Volk" klingt so gut, aber das jüdische Volk wurde auserwählt, so die Sicht der Orthodoxie, die Thora mit ihren 613 Geboten und Verboten zu befolgen. Das ist eher ein schwerer Rucksack.

STANDARD: Im Herbst war Laubhüttenfest (Sukkoth) und Jom Kippur (Versöhnungstag), davor Rosch ha-Schana (jüd. Neujahr). Wie werden solche Feiertage begangen?

Schwarz: Die jüdischen Feiertage sind familiäre Feste. Familie ist wichtig im Judentum, nicht nur weil die Religion das fordert, sondern weil Juden sich immer auf die Familie verlassen mussten. An Feiertagen gibt es ein Essen bei der Familie, das religiöse Zeremoniell findet in der Synagoge statt. Der orthodoxe Jude geht in die Synagoge, macht das Essen zu Hause, baut eine Laubhütte zum Laubhüttenfest, der traditionelle Jude wird sich auf das Essen zu Hause reduzieren. Rosch ha-Schana und Jom Kippur sind Zeiten der Rückbesinnung auf das vergangene Jahr. Besonders wenn man etwas Unrechtes getan hat, soll man das wieder gutmachen.

STANDARD: An Jom Kippur wird 24 Stunden lang gefastet.

Schwarz: Sogar 25 Stunden. Fasten heißt: nichts essen und nichts trinken. Das halten auch viele Nichtorthodoxe ein. Da muss man richtig runterkommen. Das tut der Internet-Seele von heute sehr gut.

STANDARD: An den nichtjüdischen Österreichern gehen diese Feiertage spurlos vorbei.

Schwarz: Wenn man in Österreich mit einer Kippa (der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung) geht, wird man noch immer komisch angesehen. Das Judentum gehört zu Österreich wie der Fiaker zum Stephansplatz. Aber es gab diese Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Das Judentum ist zu einem Tabuthema geworden. Wenn eine Generation darüber nicht spricht, verliert man den Kontakt und das Wissen. Im Gegensatz dazu ist in Amerika das Judentum im Alltag sehr präsent. Jeder kann mit den Begriffen Bar-Mizwa (Religionsmündigkeit) oder Brit Mila (Beschneidung) etwas anfangen, weil das in TV-Serien wie Sex and the City vorkommt. Viele meiner nichtjüdischen Freunde verstehen einfach nicht, warum ich nicht Weihnachten feiere. Chanukka im Dezember gehört zu den Easy-Going-Feiertagen. Man darf da mit dem Auto in die Synagoge fahren, und auch sonst gibt es keine Verbote.

STANDARD: Ihr Buch beschäftigt sich mit Vorurteilen und Unsicherheiten gegenüber dem Judentum. Was ärgert Sie da am meisten?

Schwarz: Weniger ärgert, vielmehr verwundert mich, warum viele noch immer nicht begreifen, dass es neben dem österreichischen Katholiken auch einen österreichischen Juden gibt. Es ist die Aufgabe unserer Generation, das zu klären.

STANDARD: Sie schreiben: "Natürlich gab es Zeiten, in denen man froh war, nicht als Jude identifiziert zu werden." Sie beschreiben ferner ein neues Selbstbewusstsein. Wann hat sich dieser Prozess vollzogen?

Schwarz: Es hat dazu die erste Generation gebraucht, deren Eltern nicht in der Shoah waren. Als in Wien die erste jüdische Schule gegründet wurde, hieß es: Ihr macht euch ein neues Ghetto! Aber für alle, die da rauskamen, war Judentum etwas Normales, das man auf der Straße zeigen kann. Wir waren die erste Generation, die die Koffer ausgepackt hat.

STANDARD: Sie plädieren dafür, Fragen zu stellen! Welches Verhältnis haben Sie heute als junger österreichischer Jude zu Israel?

Schwarz: Wir wurden noch so erzogen, dass Israel der Joker ist, den man im Notfall ziehen kann. Der Staat wurde aufgrund der Shoah gegründet, das ist nicht zu negieren. Als die erste El Al in Wien gelandet ist, hatten meine Eltern Tränen in den Augen. Man wollte dieses Projekt unterstützen. Viele haben Feriensitze gekauft, den Sommerurlaub dort verbracht. Der Staat Israel hat Juden ein Selbstbewusstsein gegeben. Man kann dort offen sprechen, kann auch Fehler machen. In Österreich bin ich am Schabbat mit Kippa auf dem Kopf, um nicht negativ aufzufallen, noch nie bei Rot über die Straße gegangen. Israel hat uns das Selbstbewusstsein gegeben, das auch einmal zu tun, ohne antisemitisch beschimpft zu werden. Deshalb sind wir dem Land verbunden - mit allen Vor- und Nachteilen. In den USA wächst eine Generation von Juden heran, die offen Kritik an der israelischen Politik, übt. Das muss das Judentum aushalten.

STANDARD: Sie sprechen Hebräisch?

Schwarz: In der Schule haben wir Hebräisch gelernt. Ich war jedes Jahr mit meinen Eltern in Israel. Viele meiner jüdischen Freunde sprechen aber kein Hebräisch. Erstaunlich bleibt: Im 20. Jahrhundert wurde eine tote biblische Sprache wieder zur Alltagssprache gemacht. Das ist eine kulturelle Sensation.

STANDARD: Sie bezeichnen sich als modern orthodox, "flexodox", ein Begriff aus den USA. Welche Bedeutung haben die Gebote für Sie im Alltag? Wie streng begehen Sie den Schabbat?

Schwarz: Wir sind jene Menschen, die die Religion bestmöglich einhalten, aber im Alltag sich der Moderne anpassen, so wie es früher die assimilierten Juden gemacht haben. Als die Juden aus dem Ghetto rausdurften, war es das Wichtigste, sich anzupassen. Die Gebote haben für mich Bedeutung, weil sie meinen Alltag vorgeben. Ich halte sie einmal mehr, einmal weniger ein, manchmal nicht und manchmal auch. Das sei jedem selbst überlassen. Am Schabbat arbeite ich nicht, koche nicht, fahre nicht mit dem Auto und bediene keine elektrischen Geräte. Den Alltag einmal abzuschalten kann guttun. Aber das bedeutet nicht, dass wir nur kaltes Essen essen.

STANDARD: In Österreich leben heute 15.000 Juden ...

Schwarz: ... höchstens. Der Präsident der Kultusgemeinde Ariel Muzicant spricht von nur 12.000, davon sind 8000 Gemeindemitglieder. In Wien lebten vor dem Zweiten Weltkrieg bei einer viel geringeren Bevölkerungszahl 200.000 Juden.

STANDARD: 12.000 sind nicht viel. In Israel gibt es Stimmen in der linkszionistischen Partei, die für eine kulturelle Konversion zum Judentum sind. Jeder soll bestimmen können, ob er Jude sein will. Doron Rabinovici schrieb dazu treffend: "Als hätte das Wesen nichts mit dem Gewesenen zu tun." Es gibt Menschen, die zum Judentum konvertieren ...

Schwarz: ... warum auch immer. Ich persönlich finde das seltsam. Das Judentum ist keine Religion, die aktiv Mission betreibt - im Gegenteil. Was das Fundament der Religion betrifft, sollten bestimmte Regeln eingehalten werden, sollte, meiner Meinung nach, die Orthodoxie das Sagen haben.

STANDARD: So viel zum Einstiegsszenario. Wie sieht es mit einem Ausstiegsszenario aus? Wieder zitiere ich Doron Rabinovici, der schreibt, dass laut Rabbiner-Meinung auch ein Atheist, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde, ein Jude ist, egal ob er Ostereier sucht oder nach Mekka pilgert.

Schwarz: Genau. Man kommt nicht raus, keine Chance. Man bleibt Jude. So etwas wie einen Kirchenaustritt gibt es nicht, dafür auch keine Kirchensteuer. Man ist einfach dabei, dafür muss man nichts leisten.

STANDARD: Manchmal hat es dennoch seinen Preis, etwa bei arrangierten Hochzeiten. Ist das auch in Wien üblich?

Schwarz: Ja, stärker denn je. Das ist ein ganzer Markt, besonders bei den Orthodoxen. Dafür gibt es eigene Portale, wie etwa Jdate.com. Es ist auch Tradition, die Matchmakerinnen, meist sind es Frauen, die ein Date zum Erfolg gebracht haben, zu entlohnen.

STANDARD: Gibt es dagegen heute keine Widerstände?

Schwarz: Das arrangierte Heiraten findet in meinem Umfeld wenig statt. Aber in streng orthodoxen Familien ist das üblich. Sicher gibt es auch Widerstände oder Ehen, die nicht funktionieren. Zahlen kenne ich leider nicht.

STANDARD: Keine Beichte, keine Kirchensteuer ... Wie funktionieren die Kultusgemeinde und ein Engagement darin?

Schwarz: Das Engagement in der Kultusgemeinde ist wie bei der Freiwilligen Feuerwehr ein ehrenamtliches. Die Gemeinde ist ein soziales System, in dem gewisse Institutionen instand gehalten werden. Es ist gut, eine Schule, einen Kindergarten, ein Altenheim zu haben. Aber man braucht das alles nicht, um Jude zu sein. Wien ist eine der heterogensten Einheitsgemeinden weltweit. Wir haben die ganze religiöse und kulturelle Bandbreite. Die Leute kommen aus Russland, Polen, Ungarn, Israel, der Ukraine, Georgien, Usbekistan, Deutschland ... So gesehen sind wir fast Klein-Israel. In Amerika haben viele Orthodoxe mittlerweile weltliche Berufe. Das fände ich auch hier wichtig, denn vor dem Zweiten Weltkrieg sind viele Orthodoxe als Bettler verendet. In New York gibt es heute den streng orthodoxen Busfahrer. Bis man hier aber einen streng orthodoxen jüdischen Straßenbahnfahrer sehen wird, muss noch viel Wasser die Donau hinunterfließen.
(DER STANDARD, Printausgabe, 19./20.11.2011)