Ein in Österreich anerkannter Philosoph äußert sich zum Bildungsvolksbegehren - und teilt kräftig aus: Es habe viel zu wenig Stimmen bekommen (dem ist zuzustimmen), obwohl es doch von Sozialpartnern, Industriellenvereinigung und zahlreichen Organisationen „lauttönend" unterstützt wurde. Den Proponenten, die in über 380.000 Unterschriften einen Erfolg sehen, bescheinigt er an Realitätsverlust zu leiden und überhaupt blende das Volksbegehren "alle wirklichen Konfliktzonen im Bildungsbereich" aus.

Womit argumentiert der Autor, welches Szenario entwirft er, wohin soll die Debatte führen? Zunächst wird ein Realitätsverlust jener 28 Prozent konstatiert, die im 1. Wiener Gemeindebezirk unterschrieben haben: Die dort konzentrierten "Eliten" würden "für das Volk Gesamt- und Ganztagsschulen, das Ende des Sitzenbleibens und eine Lehrerausbildung (fordern), die zur endgültigen Dequalifizierung dieses Berufsstandes führen würde." Glaubt Liessmann, dass Eliten ein Volksbegehren unterschreiben, damit "das Volk" - wer auch immer das sein mag - ja nicht mit ihren Kindern gemeinsam die Schule besucht?

Das Ende des Sitzenbleibens ist tatsächlich ein Thema, das schwierig kommunizierbar war und ist und leicht als ein schrankenloses Durchschleusen aller Schülerinnen und Schüler durch das Schulsystem ohne adäquate Leistungsfeststellung missverstanden werden kann. Doch darum geht es nicht und wir können Herrn Liessmann gerne unterstellen, dass er das auch weiß.

Wie er zur Annahme kommt, eine reformierte Lehrerausbildung würde zur "endgültigen Dequalifizierung dieses Berufsstandes" führen, bleibt schleierhaft. Dafür spottet er über eine "Rhetorik der Gerechtigkeit und der Fairness", macht sich lustig über Integration und Inklusion und dem Träumen von einer Schule, die alle Defizite ausgleiche. Wie soll man das verstehen? Wodurch sollen wir Begriffe wie Gerechtigkeit und Fairness ersetzen? Soll die Schule weiterhin soziale Ungleichheit reproduzieren, sich auf das Vermitteln von Fachwissen beschränken und Defizite als gegeben akzeptieren?

Und nun zu den „wirklichen Konfliktzonen": Wer sagt, dass all die Bildungsexperten quer durch alle Bildungsinstitutionen und politischen Orientierungen diese nicht erkennen könnten? Noch nie ist es in Österreich gelungen, so viele Bildungsexperten und Interessensvertretungen hinter ein so breites Programm, wie es die zwölf Punkte des Bildungsvolksbegehrens darstellen, zu vereinen. Wie und wo wird denn das Thema Migration ignoriert? Und was heißt denn dieser Satz: "Die Überforderung von Schulen mit Aufgaben und Zumutungen aller Art wurde (...) ausgeblendet"?

Ja, die Schulen sind zum Teil überfordert, weil sich die Gesellschaft dummer Weise nicht an die Vorgaben der Institution Schule hält: Noch immer ist sie auf einen Normschüler ausgerichtet, der aus einem bildungsnahen, bürgerlich-katholischen Haus kommen soll, in dem die Ehe aufrecht ist, die Mutter nachmittags Zeit für das gemeinsame Hausaufgabenmachen hat, die Eltern natürlich einen österreichischen Stammbaum vorweisen können, das Kind einsprachig Hochdeutsch sozialisiert ist und Hobbies wie Tennis, Reiten oder Klavier nachgeht.

Unangenehmer Weise sieht die Wirklichkeit anders aus, die Schule sieht aber noch sehr so aus wie vor fünfzig oder mehr Jahren. Liessmann sieht anscheinend das Hauptproblem "nicht in einem Defizit an pädagogischer Kompetenz, sondern in einer zunehmenden Ferne zum Fachwissen und dem damit verbundenen Verlust an Souveränität und Begeisterungsfähigkeit". Also: Mehr Fachwissen, die pädagogische Kompetenz ist sowieso gegeben - nur ja nicht an den Strukturen rühren. Bleiben wir beim Unterricht im Stundentakt, lehrerzentriert im Zeitalter der Neuen Medien - und alles wird gut.

Ist es das, was er meint?

Liessmann bemängelt weiters einen fehlenden "Diskurs darüber, was man denn eigentlich unter Bildung verstehen wollte". Darüber lässt sich reden, ist auch zweifelsohne wichtig - aber: Wer sagt, dass das all den Unterstützern des Bildungsvolksbegehrens nicht ebenso wichtig ist? Im nächsten Absatz plädiert Liessmann "im Gegensatz zu den nebulosen Formulierungen des Volksbegehrens" für eine Reihe sinnvoller "Unterscheidungen" - das geht vom "Erwerb basaler Kulturtechniken" bis zum "Eindringen in die Verfahren und Methoden der neuzeitlichen Wissenschaften" ("Eindringen" ist auch ein merkwürdiger Begriff in diesem Zusammenhang). Hätte man diese Aufzählung ins Bildungsvolksbegehren schreiben sollen?

Es folgt der zweite Seitenhieb auf Wirtschaft und Politik, so als ob - ich wiederhole mich - die Proponenten a) nichts von Bildung verstünden und b) ausschließlich den für die Wirtschaft ausgebildeten flexiblen Menschen sich zum Ziel setzten.

In der Folge stellt Liessmann fest, dass Bildung ein "Mittelstandsphänomen" sei und spricht den "sogenannten bildungsfernen Schichten" "andere Werte und Ideale" zu (Stichwort "alkoholisierter Rockstar") - und damit ebendiesen jegliches Interesse an Bildung ab. Es gibt aber viele Jugendliche, die sowohl auf gewisse (auch alkoholisierte) Rockstars "stehen" (wie es so schön heißt) und sich gleichzeitig über ihre Bildungschancen im österreichischen Bildungssystem Sorgen machen.

Der Artikel ist mit einem spöttischen und höhnischen Unterton geschrieben, problematisiert zum Teil Dinge, die den meisten Proponenten des Bildungsvolksbegehrens glasklar sein dürften (der Bildungsbegriff, zum Beispiel), unterstellt eine einseitige Nähe zu den Interessen der Wirtschaft und enthält sich jeglicher Ideen für eine Verbesserung der Bildungssituation.

Der Autor sieht anscheinend keine Bildungsmisere und daher auch wenig Handlungsbedarf. Er beruft sich noch auf einen Bildungsredakteur der FAZ, der die Schule anscheinend so lassen will, wie sie ist. Oder doch nicht? Denn am Schluss spricht auch Liessmann davon, "Rahmenbedingungen zu schaffen, die es fachlich und didaktisch gut ausgebildeten und entsprechend bezahlten Lehrern ermöglichen, ihre Arbeit zu verrichten, ohne dabei ständig von jemandem in oder außerhalb der Klasse gestört zu werden."

Wer stört? Die Schülerinnen und Schüler, die nicht dem Idealbild entsprechen? Die Eltern, die die Kinder nicht so erziehen, wie es die Schule erwartet? Soll man die Schule so lassen, wie sie ist - und dafür die Schüler austauschen? Oder ist mit "Rahmenbedingungen schaffen" doch eine Reform gemeint?

Und wenn ja, wie anders sollte sie denn aussehen, als das, was aus den zwölf Forderungen des Bildungsvolksbegehrens hervorgeht? Also insgesamt finden sich in diesem Beitrag zu viele Unklarheiten und Ungereimtheiten - ich würde sagen: Themenverfehlung. (Georg Gombos, DER STANDARD, Printausgabe, 16.11.2011)