Nur scheinbar durchlässige Barrieren: die Titelhelden Nader (Peyman Moadi, li.) und Simin (Leila Hatami) in Asghar Farhadis mitreißendem Berlinale-Gewinner.

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Wien - Ein Paar trägt leidenschaftlich sein Anliegen vor: Monatelang hat man sich um den Erhalt von Visa bemüht, nun könnte die dreiköpfige Kleinfamilie endlich legal emigrieren. Aber der Vater von Nader (Peyman Moadi) leidet an Alzheimer, und der Sohn will den alten Mann nicht in fremder Obhut zurücklassen. Simin (Leila Hatami) würde den Iran notfalls auch ohne ihren Ehemann verlassen, jedoch nicht ohne die gemeinsame halbwüchsige Tochter. Der Scheidungsrichter kann das Problem nicht lösen. Aber mit dieser ebenso reduzierten wie dynamischen, frontal in die Kamera argumentierten Exposition von knapp drei Minuten ist ein Grundkonflikt etabliert, alles Weitere folgt daraus.

Eine zweite Familie, eine andere Zwangslage und ein anderes Milieu kommen ins Spiel: Razieh (Sareh Bayat) wird als Pflegerin engagiert. Sie hat Zweifel, in kritischen Momenten sucht sie Rat bei einer religiösen Ratgeber-Hotline. Aber ihr Mann Hodjat (Shahab Hosseini) hat keine Arbeit, die Familie hat Schulden, und Razieh erwartet ihr zweites Kind. Diese komplizierte Gemengelage, all diese kleinen Interessen- und Gewissenskonflikte, die keine einfachen Lösungen erlauben, kulminieren vorerst in einem Treppensturz mit fatalen Folgen. Und sie erweitern sich rasch zum Gesellschaftsdrama, welches von Individuen erzählt, deren Denken und Handeln eingeschränkt erscheint, auch wenn keine offene Repression sichtbar ist.

Nader und Simin - Eine Trennung / Jodaeiye Nader az Simin heißt der fünfte Kinofilm des iranischen Filmemachers und Autors Asghar Farhadi. Im Februar dieses Jahres, im Wettbewerb der Berlinale, entfaltete er seine mitreißende Wirkung unmittelbar. Die Jury verlieh schließlich nicht nur die beiden Schauspielpreise an die jubilierenden weiblichen und männlichen Darstellerensembles des Films - darunter Farhadis Tochter Sarina als Tochter der Titelhelden. Sie erkannte Nader und Simin auch den Goldenen Bären zu. Den Silbernen Bären für die beste Regie hatte Farhadi 2009 wiederum schon für den Vorgängerfilm About Elly bekommen.

In dieser wie in allen anderen Kinoarbeiten des 1972 in Isfahan geborenen Regisseurs rückt der Alltag einer materiell gut gestellten, gebildeten, urbanen iranischen Mittelschicht ins Zentrum, die gleichwohl an innere und äußere Grenzen der Islamischen Republik stößt.

Versteckte Kämpfe

Eine Klasse, die laut Farhadi, auch deshalb gezeigt und kritisiert werden müsse, weil sie eine entscheidende Rolle in der Gesellschaft spiele. Allerdings würden "versteckte Kämpfe" nicht nur zwischen dieser und den anderen Schichten ausgetragen: "Es ist nicht so, dass es innerhalb dieser Schichten ein einheitliches System gibt, auch in ihnen gibt es ein Zerren, Auseinandersetzungen - sie stellen keine Einheit dar."

Konsequenterweise hält Nader und Simin zwischen seinen Figuren eine relative Balance. Es geht nicht um einfache Schuldzuweisungen oder eindeutige Machtverhältnisse. Vielmehr werden, entlang einer Zuspitzung in Richtung Ausweglosigkeit, fortwährend Positionen dargelegt und weiter differenziert.

Diese Vorgangsweise, bei der alles in Bewegung bleibt, involviert nicht zuletzt das Publikum. Und - wie Farhadi im Gespräch mit dem Standard jüngst weiter anmerkte - selbst die Mitarbeiter der Zensurbehörden, denen er stets erst den fertigen Film zur Begutachtung vorlege, seien dann "emotional mit dem Film konfrontiert".

Der Regisseur erweist sich mit Nader und Simin jedenfalls einmal mehr als virtuoser Filmerzähler: Die Wohnung, zentraler Schauplatz des Films, ist um einen Lichthof gebaut. Diese Anlage macht Blicke und (heimliche) Beobachtungen möglich - so wie an anderen Stellen die Rückspiegel im Auto oder semitransparente gläserne Türen. Immer wieder entstehen so buchstäblich vielschichtige Bilder: Jemand im Hintergrund sieht jemand anderem zu, zwischen ihnen eine trennende Scheibe - das ist fast ein Sinnbild für den Film.

Positionen und Frontverläufe verschieben sich darin wie die Glasplättchen in einem Kaleidoskop. Im letzten Bild des Films erscheint der Unterschied zum Anfang auf den ersten Blick marginal. Und trotzdem ist an entscheidender Stelle etwas unrettbar zu Bruch gegangen. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe 17. November 2011)