Am 14. Oktober 2011, einen Tag vor dem weltweiten Occupy-Protesttag, wurde in der Wiener Lindengasse ein seit Monaten leer stehendes Gebäude besetzt. Der dort entstandene Freiraum, das "Epizentrum", sollte für verschiedene Gruppen und Aktivitäten genutzt werden.

Drei Wochen lang fanden dort Diskussionen und Workshops statt, jeden Abend gab es eine Veranstaltung der neu gegründeten "Freien Universität Wien", ein Kost-Nix-Laden wurde eingerichtet. Die BesetzerInnen gestalteten das Haus mit bunten Farben und viel Arbeit zu einem wunderbaren Raum um, der Platz für die Verwirklichung von Ideen bieten sollte, für die es sonst kaum Platz in der Bundeshauptstadt gibt. Die BUWOG duldete die Besetzung anfangs, stellte den BesetzerInnen schließlich ein Ultimatum und kündigte nach dessen Ablauf die Räumung durch die Polizei an. Verhandlungen und Gespräche zu einer Zwischennutzung wurden einseitig durch den Hauseigentümer abgebrochen, die BesetzerInnen kündigten an, das Epizentrum nicht verlassen zu wollen. Sie setzten ihre Veranstaltungen fort, kümmerten sich weiter um das Haus und bastelten an dem neu geschaffenen Freiraum.

Räumung und Spontandemonstration

Am 8. November 2011 um 11.00 Uhr erfolgte schließlich die Räumung des Epizentrums. Hunderte PolizistInnen, ein Panzerwagen, eine Hundestaffel und ein Hubschrauber wurden seitens der Exekutive für die Räumung aufgefahren. Die Gegend rund um die Lindengasse 60 wurde abgesperrt, Anrainer durften das gesperrte Gebiet nur nach Vorlage eines Meldezettels betreten. Die Räumung selbst erfolgte friedlich und ohne Zwischenfälle. Es kam zu keinen Festnahmen. Um 18.00 Uhr versammelten sich einige hundert AktivistInnen zu einer spontanen Solidaritätsdemonstration beim Urban Loritz Platz, um ihrem Ärger über die erfolgte Räumung Luft zu machen. Sie machten von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch und wurden von einer Übermacht von PolizistInnen "begrüßt". Der Demonstrationszug setzte sich Richtung Westbahnhof in Bewegung, die Polizei versuchte den unangemeldeten Protest aufzulösen. Nachdem das naturgemäß nicht gelang begann die Polizei, wie (in Wien) üblich in solchen Situationen, die DemonstrantInnen ein zukesseln und deren Personalien aufzunehmen. Damit nicht genug kam es zu Festnahmen, die mit "beobachteten Straftaten" begründet wurden. Augenzeugen berichteten, dass die Polizei wahllos Menschen aus dem Kessel zerrte, zu Boden drückte und in den Polizeibus setzte, um die Festgenommenen nach dem Ende der Demonstration in das Polizeianhaltezentrum Roßauer Länder zu bringen.

Zwar wurden die betroffenen Personen noch am selben Abend freigelassen - die Handhabe reichte wohl nicht aus, um sie länger festzuhalten - allerdings zeigt das Vorgehen die Unfähigkeit der Exekutive deeskalierend aufzutreten und bestätigt, was bei verschiedenen Protesten dieser Art immer wieder passiert. Übertriebene Gewalt, eskalierende Präsenz und Rhetorik, sowie die Anwendung unverhältnismäßiger Mittel sind immer wieder festzustellen. Zudem wurden bewusst Unwahrheiten verbreitet, wie zum Beispiel die Behauptung, dass man die Gegend um das Epizentrum absperren musste, weil angeblich Ziegelsteine geworfen werden oder die festgenommenen DemonstrantInnen seien bei Straftaten beobachtet worden. Keine dieser Behauptungen konnte seitens der Exekutive belegt werden.

Rot-Grün, quo vadis?

Seit Oktober 2010 wird Wien von einer rot-grünen Koalition regiert. Die Grünen hatten in den Koalitionsvertrag mit der SPÖ einen Punkt hineinreklamiert, in dem ein Bekenntnis zum Zwischennutzungsrecht leerstehender Gebäude festgeschrieben ist. Bereits im Sommer kam es zu einer Besetzung (Lobmeyer-Hof, 1160 Wien), die ebenfalls mittels polizeilicher Räumung aufgelöst wurde. Mehr als eine Presseaussendung der Grünen war an Unterstützung für die BesetzerInnen nicht drin. Nachdem am 14. Oktober 2011 das Epizentrum in der Lindengasse besetzt wurde, in einem Bezirk, der mit Thomas Blimlinger einen Grünen Bezirksvorsteher hat, und im Zuge der weltweiten Proteste für eine Demokratisierung von Gesellschaft und politischen Entscheidungsprozessen, war die Hoffnung groß, dass sich die Grünen diesmal deutlich zu Wort melden. Aktive Solidaritätsbekundungen und -handlungen, sowie die Besinnung auf das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Zwischennutzungsrecht wurden vorsichtig erwartet. Einmal mehr wurden die AktivistInnen enttäuscht. Als vergangene Woche die Räumung des Epizentrums drohte, folgte einzig der Grüne Gemeinderat Klaus Werner-Lobo dem Solidaritätsaufruf und tauschte einen Abend bei der Viennale-Gala gegen einen Besuch im Epizentrum. Die befürchtete Räumung blieb aus, breite Unterstützung seitens der Grünen ebenso.

Blimlinger spricht nachträglich

Bezirksvorsteher Blimlinger meldete sich am Tag nach der Räumung, am Tag nach dem eskalierenden Vorgehen der Polizei in einem Standard-Interview zu Wort und erklärt, dass der Aufwand der seitens der Exekutive für die Räumung des Gebäudes betrieben wurde, unverhältnismäßig gewesen sei. Er bekenne sich zu einer Zwischennutzung leerstehender Gebäude, könne aber nicht für fremdes Eigentum sprechen. Die Behauptung, die BesetzerInnen hätten sich nach anfänglichen Gesprächen in zwei Lager gespalten, ist schlicht unwahr und entbehrt jeglicher Grundlage. Blimlinger will damit wohl nur rechtfertigen, dass er und seine mitregierende Partei wieder einmal vor der Übermacht der SPÖ in die Knie gegangen sind und junge Menschen im Stich gelassen haben. Die Haltung der Bürgermeisterpartei zu neu geschaffenen Freiräumen ist hinlänglich bekannt, die Erwartungshaltungen daher vernachlässigbar. Von den Grünen durfte man sich - orientiert man sich an den großspurigen Lippenbekenntnissen - mehr erwarten.

Urbane Freiräume wichtig

Freiräume sind gerade für Großstädte wie Wien eine wichtige Bereicherung der kulturellen und politischen Szene, tragen zur Umsetzung unkonventioneller Projekte bei und geben der Stadt ein weiteres, wichtiges Gesicht. Niemand würde heute die Existenz von WUK oder Arena in Frage stellen. Bürgermeister Häupl erklärte im Rahmen der Geburtstagsfeier des WUK, man müsse das Kulturprojekt neu erfinden, würde es nicht seit 30 Jahren bestehen.

Grüne Enttäuschung

Lippenbekenntnisse, Mutlosigkeit und Rückgratlosigkeit sind der Stadtregierung, vor allem aber den Grünen vorzuwerfen. Blimlinger als zuständiger Bezirksvorsteher hätte nichts zu befürchten gehabt - die nächsten Wahlen stehen erst in vier Jahren wieder an. Warum er so beharrlich geschwiegen hat und sich jetzt mit entbehrlichen Kommentaren zu Wort meldet, ist nicht nachvollziehbar. Vizebürgermeisterin Vassilakou ist seit der Regierungsbildung weitgehend abgetaucht und für Anfragen seitens der BürgerInnen kaum noch erreichbar. Wenn die Grünen glauben, mit dieser Art Politik an jungen Menschen vorbeizumachen, punkten zu können, täuschen sie sich. Vor allem die eigene WählerInnenschaft ist zunehmend frustriert und enttäuscht.

Die SPÖ darf sich über einen handzahmen Regierungspartner freuen, der sich konsequent im Hintergrund hält, um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. Dabei scheinen die Grünen vergessen zu haben, wofür sie unter anderem - auch von mir - gewählt wurden: in Wien eine Alternative zur immer stärker werdenden Strache-FPÖ anzubieten und die Stadt zu einem bunten, menschlichen Lebensraum für alle zu machen. Das Bekenntnis für eine Stadt der Menschen einzutreten und damit auch gegen die um sich greifende Gentrifizierung aufzutreten sieht anders aus, liebe Grüne (Leser-Kommentar, Stefanie Klamuth, derStandard.at, 9.11.2011)