Zehn psychiatrische Erkrankungen haben die Schauspieler in ihrem Repertoire.

Foto: MedUni Wien

Auf dem „Spielplan" stehen unter anderem unipolare und bipolare Depression, Zwangskrankheit, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie.

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Elli Hager betritt den Raum und verbreitet Beklemmung. Zögernd tasten sich ihre Füße voran, ihr Blick ist ängstlich, die Augen zwinkern nervös, sie wirkt gehetzt und würde am liebsten hinter ihrer Tasche verborgen bleiben. „Ich bin müde", erklärt die Mittvierzigerin der Ärztin, die sie begrüßt hat. Müde ist sie, weil sie die ganze Nacht putzt, zwanghaft ihre Wohnung säubert.

Frau Hager leidet an einer Zwangsstörung und ist in Wirklichkeit die Schauspielerin Gabriela Hütter, die an diesem Wochenende ihren bühnenreifen Auftritt vor Studenten der Medizin und Psychologie absolviert. Die psychische Störung, die sie bis ins kleinste Detail verkörpert, bis zur fahrigen Gestik verinnerlicht hat, hat sie sich über eineinhalb Jahre erarbeitet. „Wir spielen hier tatsächliche Patientengeschichten nach. Ich habe die Krankheit übernommen, mich mit der Patientin getroffen, darüber gelesen und bin tief in die Krankheit eingestiegen", schildert Hütter die Entstehung „ihrer" Zwangsstörung.

Spielplan im Studienplan

Seit 2002 verwandelt sie gemeinsam mit ihren Kollegen Eva Linder und Hagnot Elischka einmal im Semester die Seminarräume der Meduni Wien in eine psychiatrische Ambulanz. Die Lehrveranstaltung nennt sich „Psychiatrisches Explorationspraktikum". Angehende Mediziner üben dabei Gesprächssituationen mit Schauspielpatienten.

Das Explorationspraktikum war in den 90er-Jahren eine Pionier-Veranstaltung an der Wiener Uni. Die inzwischen pensionierten Professoren Gerhard Lenz und Martin Lischka haben die Methode einst in der Überzeugung, dass das psychiatrische Gespräch „als Mittel der Untersuchung auch bereits die Einleitung der Behandlung" bedeutet, nach Wien gebracht. „Wir haben zehn Krankengeschichten im Repertoire und alle gehen auf reale Personen zurück", sagt Martin Aigner, der die Lehrveranstaltung gemeinsam mit seiner Kollegin Henriette Löffler-Stastka nun durchführt.

Auf dem „Spielplan" stehen Erkrankungen wie unipolare und bipolare Depression, Zwangskrankheit, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie, schizo-affektive Störung mit religiösem Erlösungswahn, Alkoholkrankheit und somatoforme Schmerzstörung. Durch den Einsatz der Schauspieler wird das „Vorführen echter Patienten" vermieden und dennoch eine reale und seriöse Situation geschaffen, von der die Studenten nachhaltig profitieren.

Detektivisches Gespür

Ein Explorationsgespräch, in dessen Verlauf der Psychiater idealerweise der Krankheit eines Patienten auf die Spur kommt, ist Detektivarbeit und erfordert eine Menge Gespür. Für den Gesprächsverlauf empfiehlt Martin Aigner den Studierenden ein strukturiertes Vorgehen - mit Fragen und Antworten als Wegweiser, die an Gabelungen über die Richtung und schließlich über die Diagnose entscheiden. „Mit der Reihenfolge der gestellten Fragen, die möglichst einfach sein sollen, klopfe ich Möglichkeiten ab und bringe Ruhe in die Exploration", so der Leiter der Abteilung für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte psychische Störungen.

Konkret heißt das: Das Gespräch wird mit einfachen Fragen, wie etwa nach dem Namen, dem Geburtsdatum oder dem Alter eröffnet. Für den Psychiater ergibt sich aus der Antwort ein Anzeichen über den Bewusstseins- oder Verwirrungszustand des Patienten. Bewusstseinstrübungen können ein Hinweis auf Intoxikation durch Alkohol oder Drogen sein. „Wie fühlen Sie sich?", tastet sich die Studentin im Gespräch mit der gespielten Patientin Elli Hager nach dem Einstieg weiter vor. Die Antwort „Ich habe ständig Angst, etwas zu tun, böse Worte zu schreiben", liefert einen ersten Hinweis auf die Zwangsstörung.

Nach der Stimmung, die der Psychiater nach fünf Graduierungen einteilt, werden die Symptome Schritt für Schritt abgefragt. Die Antworten der Patienten ergeben ein Raster, nachdem der Psychiater im Ausschlussverfahren zu einer Diagnose kommt. Neben der verbalen Kommunikation empfiehlt Henriette Löffler-Stastka, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, den Studierenden auch die Beziehungsebene wachsam zu betrachten: „In der Diagnostik ist man selbst ein Instrument und sollte sich auf unterschiedlichen Ebenen beobachten: fachlich, menschlich und interaktiv. Die Dynamik der Interaktion hält diagnostische Hinweise bereit. Was ein Patient wann, wie, mit welcher Intention ausspricht, an wen er sich auch unbewusst richtet, ist immer zu reflektieren."

Krankheiten entstigmatisieren

Für die Studierenden bedeutet das: Vorsicht vor überstürzten Schlüssen. „Manche Dinge kann man erfragen, manche muss man beobachten. Der Unterschied zwischen einer Psychose und Schizophrenie kann sich in Details äußern", erklärt Martin Aigner. „Wenn man da nicht genau genug hinschaut und die Auffälligkeit erkennt, läuft man Gefahr der falschen Fährte zu folgen."

Die Arbeit mit den Schauspielern helfe den angehenden Medizinern auch dabei, Krankheiten und Patienten zu entstigmatisieren, sind sich Lehrende und Schauspieler einig.
„Ich spiele zum Beispiel eine Frau, die gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Wie sehr ich mich im Gespräch öffne, hängt davon ab, wie gut ich mich aufgehoben fühle, ob mir das Gegenüber Empathie entgegen bringt", erklärt Eva Linder.

Am Ende des Explorationsgesprächs macht Elli Hager einen dankbaren Eindruck. „Die Studentin ist mit mir mitgegangen, hat mich ernst genommen, das hat mich beruhigt", gibt die Schauspielerin Feedback. Und die Studentin kann ihren Mut zur Begegnung mit Elli Hager als wertvolle Berührung mit der Praxis verbuchen. (derStandard.at, 21.11.2011)