Der Strizzi stirbt aus, und seine Sprache mit ihm, sagt Ernst Hinterberger. Er selbst übt sich in buddhistischem Gleichmut.

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STANDARD: Wo ist denn der große Buddha, der immer hier saß?

Hinterberger: Den haben wir weggeben, war im Weg. Aber ich bete eh keine Figuren an. Man kann Buddhas Lehre verehren oder annehmen, aber ihn nicht anbeten.

STANDARD: Sie wurden gerade 80. Buddhist wurden Sie mit 22, da gab es Richard Gere noch gar nicht. Sie hatten damals eine Lehre und Ihre Polizistenausbildung fertig, aber nur einen Job als Hilfsarbeiter. Da gab der Buddhismus Trost?

Hinterberger: Damals ist mir alles zerbrochen. Ich hab mir gedacht: Wie läuft das? Du kannst machen, was du willst - es gelingt dir nix. Und weil ich in der NS-Zeit in die Schule gegangen bin, hatte ich nie Religion. Also hab ich das in der Volksbildung nachgeholt und kam auf Laotse. Das war genau das Verkehrte: Laotse gibt keine Regeln vor, ich habe aber etwas gesucht, an dem ich mich festhalten kann. Nach ein paar Jahren war ich beim Zen-Buddhismus und habe mich da vervollständigt.

STANDARD: Und Sie sind wirklich so gleichmütig, wie Sie sagen?

Hinterberger: Der Buddhismus hat riesigen Gleichmut in mir erzeugt. Bei den ganzen Ehrungen, da machen manche Luftsprünge - krieg ich so eine Pletschn (Auszeichnung; Anm.), liegt‘s im Nachtkastl.

STANDARD: Für Sie als Buddhist gibt es ja keine Wirklichkeit...

Hinterberger: Ich existier‘ in Wirklichkeit ja gar nicht. Sie auch nicht. Niemand.

STANDARD: Weil: Wir sind die Träume von den Träumen...

Hinterberger: ...von den Träumen.

STANDARD: Und wer träumt uns?

Hinterberger: Alles entsteht aus unserem Bewusstsein. Das Leben ist eine Annahme. Aber wissen'S: Man kann das alles nur wissen, nicht erklären.

STANDARD: Macht Sie das dann aber nicht sehr einsam?

Hinterberger: Eigentlich nicht. Denn ich leb ja gezwungenerweise in dieser Welt der Träume. Also: Wenn‘s draußen kalt ist, ist mir auch kalt. Und es gibt auch Sachen, die mir nicht unbedingt recht sind; aber ich geh nicht nieder deswegen oder spring‘, vor lauter Freud, meterhoch in die Höh. Wichtig ist für uns Buddhisten, dass wir nirgends anhaften. Ich muss eben alles mitmachen in der Figur, in der ich existiere, aber es hat alles keine Bedeutung.

STANDARD: Als Sie 2002 das Buch "Abschied" schrieben, waren Sie verzweifelt. Sagten, Sie seien "der Wirklichkeit nicht gewachsen". Beim Sterben fängt die Wirklichkeit dann doch an?

Hinterberger: Sicher. Es ist halt ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

STANDARD: Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Hinterberger: Eigentlich nicht.

STANDARD: Vor dem Totsein?

Hinterberger: Auch nicht. Ich bin dann weg, und damit ist die Sache eben erledigt.

STANDARD: Sie stammen aus einer Wiener Arbeiterfamilie. Mit Ihren Büchern wie "Salz der Erde", aus dem die ORF-Serie "Ein echter Wiener geht nicht unter" wurde, galten Sie den einen als Gossenautor, den anderen als Arbeiterverräter. Wie beschreiben Sie sich?

Hinterberger: Manche nennen mich Arbeiterdichter. Aber mein Schreiben hat mit Arbeiterdichtung nichts zu tun; ich hab schließlich auch eine Büchereischule gemacht und lange eine Bücherei der Volksbildung geleitet. Die Arbeiterdichter haben die Arbeit, die Maschinen, die surrenden Riemen besungen. Das ist für mich uninteressant. Man sagt ja auch nicht Gauguin: ein Bankdirektor-Maler. Der war in einer Bank, dann hat er damit aufgehört und war Maler.

STANDARD: Da draußen, in Ihrer kleinen verglasten Loggia mit Blick auf den Gürtel schreiben Sie jetzt noch Ihre Krimis?

Hinterberger: Ja, ist aber schwierig. Ich seh‘ so schlecht, dass ich sehr viele Tippfehler mache.

STANDARD: Das mach‘ ich auch, obwohl ich gut sehe. Sie haben "Trautmann" geschrieben, und dafür von den echten Wiener Kriminalibeamten den Titel "Ehrenkieberer" bekommen. Das freut Sie, trotz allem buddhistischen Gleichmut?

Hinterberger: Sicher. Das war aber auch nichts Offizielles zum Umhängen. Da wurde ich den Kreis der alten Kriminalbeamten aufgenommen, die ticken noch wie der Trautmann, und wenn Sie das tun, sind Sie eigentlich ein Saurier. Ich bin auch wie der Trautmann.

STANDARD: Berühmt wurden Sie aber mit dem echten Wiener, "Mundl" Sackbauer. Wieso betonen Sie so, dass der nichts mit Ihnen gemein hat?

Hinterberger: Na, der Mundl hat mit mir überhaupt nix zu tun. Der richtige Edmund aus dem "Salz der Erde" war ein autoritärer Typ, der am End‘ total gescheitert ist. Mein Mundl hat überall verloren. Das war im Fernsehen nicht möglich, da musste er lustig sein. Aber der Mundl ist nicht lustig. Ich hab die Freud‘ verloren, als er zur Mickey Maus wurde.

STANDARD:  Mundl haben Sie aus einem Ihrer Lehrbuben und zwei Vätern von Bekannten geschneidert...

Hinterberger: Ja, aber es gibt eine Menge Mundln. Diese Typen gibt es überall auf der Welt: Hysteriker wie den Burschi (Ex-Fußballer in "Kaisermühlen Blues"; Anm.), Abgeklärte wie den Trautmann. Ich kannte einen Kriminalbeamten, der hatte sogar im Sockenhalter eine Schusswaffe, aber nie einen Schusswaffengebrauch. Er war halt vorbereitet.

STANDARD: Das Strafrecht hat Sie immer fasziniert, was sagen Sie denn zu all den Korruptionsfällen in Österreich?

Hinterberger: Mich regt das nicht auf. Die meisten sind von Gier zerfressen, unsere Untugenden sind Gier, Neid und Wahn. Die Leut glauben, sie können sich alles ins Grab mitnehmen, dabei ist man da ziemlich nackert. Sie neigen dazu, alles zu machen, was leicht geht.

STANDARD: Linke Geldgeschäfte?

Hinterberger: Ja, noch dazu solche, die sie andren anschaffen. Stechen ist viel schwieriger. Heut wird nur noch gelogen, die Typen merken sich nicht einmal mehr, von wem sie ihre Millionen wofür bekommen haben.

STANDARD: Die sind amoralisch?

Hinterberger: Aber geh, das sind keine Leut‘.

STANDARD: Sie meinen, dass Mörder die besseren Verbrecher sind?

Hinterberger: Die haben wenigstens ein echtes Motiv. Mich interessieren Motive, aber nur komplizierte. Nicht solche, wo ein Mann seine Frau ersticht wegen nix, nur weil die ihn verlassen wollte. Da geht es ja auch nur um die Gier: Der glaubt, die Frau gehört ihm, und wenn ein anderer kommt, muss der weg. Das Wichtigste im Leben ist, dass man loslässt.

STANDARD: Ist aber auch das Schwierigste im Leben, oder?

Hinterberger: Freilich. Aber die meisten Leute wollen sich gar nicht darum bemühen.

STANDARD: Apropos loslassen. Sie haben früher Gedichte geschrieben. Die sind aber nur auf Japanisch erschienen, und Sie haben sie weggeworfen. Warum denn das?

Hinterberger: Interessierten niemanden, und die Übersetzung hab ich ja nicht verstanden. Soll aber gut gewesen sein. So bin ich in den Shikei-Poetical-Club gekommen.

STANDARD: Aus dem PEN-Club sind Sie ausgetreten. Sie haben sich nicht wert geschätzt gefühlt.

Hinterberger: Der war für die besseren Leut, die wenigstens zwei Semester studiert haben. Für die war ich der Prolo, der Strizzi. Aber ich hab kan Hass.

STANDARD: Immerhin haben Sie das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst und etliche Preise bekommen...

Hinterberger: Ich bin einer von Zehntausenden, die Bücher schreiben. Wir haben alle keine Bedeutung. Wenn irgend einer überbleibt, dann der Thomas Bernhard.

STANDARD: Den haben Sie nicht gekannt, aber Sie waren mit Johannes Mario Simmel befreundet...

Hinterberger: Merkwürdiger Mensch. Sehr belesen, aber mit Frauen hatte er Probleme. Hat sich mit drittklassigen Prostituierten umgeben, und weil er die immer mitgenommen hat, durfte er in Wien eine Zeitlang nicht in Luxushotels. Aber er war ein klasser Bursch, hat nie herausgekehrt, was er im Vergleich zu mir ist. Der hat an einem Tag 5000 Bücher verkauft. Ist auch schon tot.

STANDARD: Sie selbst waren als Junger viel mit Prostituierten unterwegs. Damals waren Sie gut mit der Emsenhuber-Julie bekannt. Eine Prostituierte, die von der Annagasse in der Wiener Innenstadt nach Wieden umzog und dort umgebracht wurde.

Hinterberger: Und zwar in der Schleifmühlgasse. Ich hab viel später von ihren Verwandten einen Brief aus St. Pölten bekommen: Die waren so gerührt, weil ich über ihre Tante so lieb geschrieben habe.

STANDARD: Noch einmal zurück zu Ihrem Mundl. Der stammt aus dem Jahr 1975. Hat sich der echte Wiener seither sehr verändert?

Hinterberger: Der echte Wiener ist im Aussterben. Goschert ist er noch immer, er weiß alles besser und hält alle anderen mehr oder weniger für Idioten. Dass er selber ein Idiot ist, da kommt er nie dahinter, was in seiner eigenen Dummheit begründet ist. Aber er hat viel mehr zum Leben. Beim Mundl war der erste Fernseher eine Aufregung, heute fahren alle in die Dominikanische Republik auf Urlaub. Aber der Wiener ist nicht g'scheiter geworden, das sehen Sie ja bei den Wahlen.

STANDARD: Wen hätte eigentlich Mundl gewählt?

Hinterberger: Er wär gar nicht zur Wahl gegangen, weil er ja eh alle für Trotteln hält.

STANDARD: Hat Sie das eigentlich gekränkt, dass Sie ÖGB- und Nationalratspräsident Präsident Anton Benya für von der Industrie gekauft hielt? Weil Sie 1971 für "Wer fragt nach uns?" den Anton-Wildgans-Preis von der Industriellenvereinigung bekommen haben.

Hinterberger: Eigentlich nicht. Der Benya war halt auch ein Politiker. Dafür hat mich die Volksstimme (KPÖ-Zeitung; Anm.) Kapitalistenknecht genannt. Wie dann in einem meiner Krimis ein reicher Playboy erschlagen wurde, hat sie eine Lobeshymne verfasst, da war ich fast Genosse.

STANDARD: Warum fast? Sie waren als junger Mann bei der Freien Österreichischen Jugend, FÖJ, das waren doch Kommunisten.

Hinterberger: Aber kaum wer ist von der FÖJ später zur KPÖ gegangen, ich auch nicht. Aber ich war praktisch von Geburt an links. Weil rechts hab ich schon überhaupt nix verloren.

STANDARD: Sind die heutigen Sozialdemokraten noch Linke?

Hinterberger: Für mich ist die SP heute eine liberale Partei, aber gekämpft wird um nichts mehr.

STANDARD: Worum haben Sie denn gekämpft?

Hinterberger: Als Betriebsrat in der Fabrik 30 Jahre um gerechte Frauenlöhne, und es hat nix genützt. Jetzt kämpf ich schon lange um gar nichts mehr. Es ist sinnlos, das wär', als würd ich in meinem Zustand gegen einen 1.96 Meter großen Riesen kämpfen.

STANDARD: Das ist Resignation.

Hinterberger: Das ist Einsicht. (Geht eine Zigarette rauchen.)

STANDARD: Wie kann denn ein Buddhist rauchen?

Hinterberger: Merkwürdigerweise geht es. Mich hat einmal ein Freund aus dem Burgenland angerufen und gebeten, seinen Wein zu taufen, weil der Pfarrer im Ort dürfe nur Leute taufen...

STANDARD: Der Wiener Dompfarrer Toni Faber tauft aber schon auch Wein...

Hinterberger: Er darf alles, der Faber tauft wahrscheinlich auch Kondome. Also: Ich fahr nach Oggau, der Pfarrer sieht mich rauchen, und fragt mich dasselbe wie Sie jetzt. Da hab ich ihm erklärt, dass in Indien, als die buddhistischen Regeln aufgestellt wurden, noch nicht geraucht wurde, es also keine Regel gegen das Rauchen gibt. Da sagte der: "Ihr Buddhisten seids genauso falsch wie wir Katholiken. Wir können auch alles begründen."

STANDARD: Noch kurz zu Ihnen und Wien. Sie leben seit jeher in Wien-Margareten. Welche andere Lieblingsgegend haben Sie? Sicher den Prater mit seiner Halbwelt.

Hinterberger: Ja, den zweiten Bezirk. Da war ich viel unterwegs, der ist meine Gegend. Ich hab die Leut, Lokale, Prostituierten, Zuhälter und die Sprache gekannt. Das waren im Prinzip ehrliche Leut. Eine Hure sagt: "Ich geh am Strich", und damit ist die Sache erledigt. Ein Zuhälter sagt, "I bin a Zuhälter", und nicht "Ich bin Berater." Aber jetzt gibt es dort die Mafia, die Strizzis und die Galeristen sterben aus.

STANDARD: Die Galeristen sind die Verbrecher aus der Verbrecherkartei. Wer beherrscht dieses Wienerisch der Strizzis und Krimineser eigentlich noch?

Hinterberger: Diese Sprache geht verloren.

STANDARD: Sie sagen, das Goldene Wiener Herz gibt es nicht, der Wiener sei gemütlich brutal. Erklären Sie der Wienerin, wie man da ist?

Hinterberger: Nehmen'S den Ausdruck für einen, der sehr unbeliebt ist: "Findet sich für den keiner?" Gemeint ist, ob sich niemand findet, der den beseitigt. Das mein‘ ich mit gemütlich brutal.

STANDARD: Haben Sie eigentlich ein Wienerisches Lieblingswort?

Hinterberger: Kübelfaller.

STANDARD: Kübelfaller?

Hinterberger: Die Wiener sind ja in der Nacht auf den Kübel gegangen, weil das Klo am Gang war. Wenn da eine Frau eine Sturzgeburt hatte, dann ist das Kind kopfüber in den Kübel g‘fallen, danach war es für immer ein bisserl deppert.

STANDARD: Ist das grauslich.

Hinterberger: Das ist Wienerisch. Es weiß aber heute auch niemand mehr, was ein Kas ist. Nicht der Käse, sondern ein Justizwachebeamter. Die haben nämlich früher Kaiserlicher Amtssoldat geheißen: K-A-S. Oder: "Wen machen": wen töten. Oder "Buckl". Das ist einer, der für seinen Chef seinen Rücken hinhält, der Bodyguard.

STANDARD: Über sich haben Sie jüngst gesagt, Sie hätten die höchste Stufe der Wunschlosigkeit erreicht. Wie geht es einem dort?

Hinterberger: Ich wünsch mir nichts. Ist praktisch nichts mehr zu erreichen. Als nächstes kommt das Nirwana, das Nichts.

STANDARD: Noch eine Frage an den Buddhisten. Die Wirklichkeit gibt es nicht - gibt's wirkliche Liebe?

Hinterberger: Ja, im höchsten Sinn. Das Unerklärbare, das Unsagbare, das man nicht benennen kann. Schaun‘S: Die Liebe zu meiner Frau endet, wenn einer von uns beiden stirbt. Ohne meine zweite Frau wär ich längst tot. Für mich allein hätte ich den Sauerstoff da nie genommen, wofür?

STANDARD: Sie meinen also, es gibt die wirkliche Liebe?

Hinterberger: Sicher. Es gibt ja auch die wirkliche Erkenntnis.

STANDARD: Worum geht's im Leben?

Hinterberger: Eh um Erkenntnis. Erkenntnis dessen, aus dem alles entsteht. Sonst nix. (Renate Graber, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 5./6.11.2011)