Ein Blick hinter die Kulissen der einflussreichsten Zeitung der Welt: "Page One: Inside the New York Times"

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Eine Szene aus Andrew Rossis Doku: Kolumnist David Carr

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Der damalige Chefredakteur Bill Keller (links) und Pulitzer-Preisträger Michael Moss (Mitte) im Newsroom.

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Das Paywall-Experiment ist geglückt: September 2011 meldete die "New York Times" 324.000 zahlende Online-Abonnenten.

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Vierzehn Monate lang nahm Dokumentarfilmer Andrew Rossi die "Fly-on-the-Wall"-Perspektive in der Redaktion der "New York Times" (NYT) ein und begleitete das Flaggschiff der amerikanischen Tagespresse mit seiner Kamera durch das Jahr des großen Zeitungssterbens. Dabei gelang es ihm, neben dem redaktionellen Tagesablauf und sagenumwobenen Page-One-Diskussionen, auch die Angst vor dem Tag einzufangen, an dem es die "New York Times" in dieser Form möglicherweise nicht mehr gibt.

Um die Beklemmung des Jahres 2010 auch visuell für den Zuschauer aufzubereiten, beginnt der Film mit Horrormeldungen zum Zeitungssterben, der Kursabsturz der NYT wird durch dramatische Nachrichteneinspielungen thematisiert und Medientheoretiker Clay Shirky meint trocken: "Die Reduktion der Werbeeinnahmen verbunden mit dem Wettbewerb um Aufmerksamkeit macht aus dem Übergang eine Revolution."

Der Mann, den nichts aus der Ruhe bringt

Doch es gibt einen, der sich durch die Orientierungslosigkeit der Zeitungsbranche, das Auftauchen von Wikileaks und die dramatischen Entlassungsszenen im NYT-Gebäude während des gesamten Films nicht aus dem journalistischen Gleichgewicht bringen lässt: Medienjournalist David Carr. Der Kolumnist mit Drogenvergangenheit führt den Zuschauer mit sarkastischem Humor und Contenance durch die Entwicklungen dieser stürmischen Zeit. Anstatt sich in den Printabgesang einzureihen, zeigt er, wie kompromissloser investigativer Journalismus funktioniert. Dabei ist er nicht blind gegenüber der Bedrohung durch die Digitalisierung, wie man aus der Bemerkungen über seinen neuen Kollegen, "Bloggerkid" Brian Stelter, schließen kann: "Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Brian als Roboter im Keller designt wurde, um mich zu zerstören."

Neue Player am Horizont

Mit dokumentarischen Blicken in die Vergangenheit arbeitet Rossi die Legitimation der NYT als wichtigen Teil der vierten Gewalt im Staat auf, und enthüllt dabei ein grundlegendes Problem, das der frühere Chefredakteur Bill Keller (derzeit behauptet sich Jill Abramson als erste weibliche Chefredakteurin in der Geschichte der NYT) wie folgt umreißt: "Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Pentagon Papers von 1971 und Wikileaks. Daniel Ellsberg brauchte damals einen Partner, um das Material an die Öffentlichkeit zu bringen, bei Wikileaks aber brauchte die Zeitung die Quelle dringender als umgekehrt."

Neben dem intimen, aber zerrissenen Blick, den Rossi immer wieder auf die Medienjournalisten als ausgesuchten Mikrokosmos in der NYT wirft, werden auch moderne journalistische Gegenentwürfe untersucht. Nebst Wortmeldungen von Amerikas "First-News-Aggregator-Lady" Arianna Huffington besucht der Dokumentarfilmer die Redaktion des Gawker mit seinem berühmten "Big Board", welches die Top 10 der meistgeklickten Meldungen in Echtzeit listet und darauf abzielt, "das Google-Algorithmus-Biest zu füttern" ebenso wie Paul Steiger, den Gründer von ProPublica. Die 2008 als Plattform für unabhängigen investigativen Journalismus gerufene Organisation wurde bereits mit zwei Publitzer-Preisen ausgezeichnet. 

Angstwort: Paywall

Keines dieser Modelle taugt jedoch für die "Grey Lady", wie die "New York Times" liebevoll genannt wird. Das Wort Paywall findet in der Dokumentation seinen Weg nur sehr selten und zögerlich vor die Kamera. Einzig der Abspann macht klar: es ist ein Schritt gesetzt worden, um der drohenden Abwärtsspirale zu entkommen.

Nach all den Tränen, Kämpfen, Diskussionen und geschichtlicher Innenschau bleibt das Ende offen. Der Film schließt mit Keller auf der Mittelstiege des von Renzo Paino entworfenen NYT-Gebäudes, als er die Pulitzerpreis-Gewinner verkündet: "Bitte notieren Sie: Journalismus ist am Leben und es geht ihm gut, besonders bei der New York Times." (Tatjana Rauth/derStandard.at/31.10.2011)