Nehmen das Publikum mit auf eine in dreizehn Plansequenzen übertragene Reise von den Rändern der surinamesischen Hauptstadt Paramaribo ins Innere des Landes: Benjen (li.) und Monie Pansa.

Foto: Viennale

"Let Each One Go Where He May" folgt einem Brüderpaar auf dessen Weg durch Surinam.

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Ein junger Mann in einem intensiv-orangen Overall steht in einem Hauseingang. Der Filmemacher tritt kurz ins Bild und schlägt die Klappe, dann beginnt die action: Der Orange verschwindet im Hausinneren, statt ihm tritt zunächst eine Gruppe Maskierter ins Freie. Ein wilder Umzug durch ein kleines Dorf beginnt, ein sich zu Perkussionsbegleitung stetig steigerndes, karnevaleskes, anzügliches Ritual - verfolgt von einer Steadicam, die mitfilmt, bis die 16-mm-Rolle abrupt endet.

Unter dem Titel Trypps #6 (Malobi) war diese zwölfminütige Arbeit vor zwei Jahren auf der Viennale zu sehen. Aber der US-Filmemacher, Fotograf und Kurator Ben Russell hat die etwas rätselhafte, an Jean Rouchs Les maîtres fous erinnernde Sequenz auch in seinen ersten Langfilm integriert. Dieser wurde bereits im Januar 2010 in Rotterdam uraufgeführt und ist jetzt auch bei der Viennale zu sehen: Let Each One Go Where He May besteht aus insgesamt dreizehn solchen Plansequenzen. Die Verbindung stiften die beiden Protagonisten (verkörpert von den Brüdern Benjen und Monie Pansa) und das Motiv der Reise.

Im Verlauf der 135 Minuten folgt man ihnen dabei von ihrem ersten Auftritt am Ufer eines Gewässers bis zu einer Bootsfahrt am Ende. Dazwischen liegen Fußmärsche und eine Busfahrt, in der sich ein beiläufiges Mikrodrama entspinnt, das Getriebe einer städtischen Hauptstraße, eine wüste Landschaft, in der Gold geschürft wird, eine erste Bootsfahrt, ein Urwalddickicht, in dem jeder Fall eines Baumes auch den Lichteinfall merklich verändert, und das eingangs erwähnte Ritual, das in diesem Gesamtzusammenhang viel weniger irritierend wirkt.

Die Schauplätze des Films liegen in Surinam, an der Nordküste Südamerikas. Russell, Jahrgang 1976, hat Ende der 90er-Jahre selbst zwei Jahre als kommunaler Entwicklungshelfer in Surinam gelebt und gearbeitet. Seine Verbindung zu den Darstellern rührt daher, sie waren auch schon in früheren, kurzen Arbeiten zu sehen. Let Each One Go Where He May kehrt jedoch nicht nur an einen Schauplatz zurück, er führt auch Auseinandersetzungen mit verschütteter Geschichte, filmischer Repräsentation oder ethnografischen Blickdispositiven weiter fort. 300 Jahre vor der Filmcrew haben die Vorfahren der saramaccanischen Protagonisten den Weg ins Innere des Landes schon einmal zurückgelegt: ursprünglich aus Westafrika stammende Sklaven auf der Flucht vor niederländischen Kolonialherren.

Unkommentierte Passagen

Der Weg ist für die beiden jungen Männer als Teil ihrer Geschichte und ihrer Mythologie bedeutsam. Und sie fungieren ein Stück weit als Führer: Das Publikum folgt ihnen genau wie Operateur Chris Fawcett, Tonfrau Brigid MacCaffrey und der Autor, Regisseur und Cutter Russell. Deren Präsenz und Vorgaben sind zwar spürbar, die unkommentierten Passagen haben dennoch weitgehend den Charakter dokumentarischer Aufnahmen. Wie in den Totalen des frühen Kinos muss sich der Zuschauer auch in diesen beweglichen Panoramen ein Stück weit selbst orientieren. (Isabella Reicher, DER STANDARD - Printausgabe, 29./30. Oktober 2011)