Wenn Unternehmer Martin Bliem einmal gebrechlich sein sollte, wird er seinen Sessel erst richtig genießen. Vorerst federt er nur zu Demonstrationszwecken.

Fotos: Matthias Cremer

"Es schaut einfach aus. Die viele Denkarbeit, die dahintersteckt, sieht man nicht", sagt Martin Bliem über seine Erfindung. Der "Chelino", wie er das von ihm entwickelte Sitzmöbel nennt, verspricht ein Aufstehen ohne Kraftanstrengung für alte, gebrechliche oder übergewichtige Menschen.

Die Sitzfläche des Sessels empfängt den Benutzer in einer erhöhten Position. Richtig eingestellt, muss er sich nur zurücklehnen und sich auf die beiden Knöpfe auf den Armlehnen stützen, und er sinkt in die Sitzposition, ohne dass der Sessel wegrollen kann. Erst wenn man draufsitzt, lösen sich die Rollen.

Beim Aufstehen braucht sich der Benutzer nur nach vorn zu lehnen. Die Sitzfläche faltet sich nach oben, und der Sitzende wird mühelos Richtung Stehposition geschoben. Wenn man die Knöpfe während der Bewegung loslässt, bleibt die Sitzfläche in der aktuellen Höhe stabil.

Bisher gab es keine in einen Sessel integrierte Aufstehhilfe für den Tischgebrauch, so Bliem. Es gab lediglich Produkte für Rollstühle und Betten oder Auflagen für Sitzmöbel. Das habe ihn selbst erstaunt. Seine Entwicklung hat er sich per internationalem Patent schützen lassen.

Ältere Menschen würden sich manchmal genieren, wenn sie Produkte verwenden, die auf ihre Gebrechlichkeit hinweisen. Bliem habe sich deshalb bei dem Stuhl um ein Design bemüht, das nicht an ein Medizinprodukt erinnert. Die Technik versteckt sich bei der Erfindung in den Stuhlbeinen. Dort sind Seilzüge und Gasdruckfedern ähnlich jenen, die helfen, dass Kofferraumdeckel von Autos leichter geöffnet werden können, verbaut. So kommt der Stuhl ohne Energiezufuhr von außen aus, allerdings muss er auf das Gewicht des Benutzers eingestellt werden, um optimal zu funktionieren.

Bis 2009 studierte der heute 34-jährige Martin Bliem Design und Produktmanagement an der FH Kuchl, davor Maschinenbau. Ein Businessplan für den Sessel, der beim Aufstehen hilft, war schon Thema seiner Bachelorarbeit. Auf die Idee kam er nach einem Gespräch mit seiner Mutter, die selbst eine ältere Dame betreut. Sie bestätigte, dass einfaches Aufstehen eine der größten Hürden im Alltag sei. Eine Studie, die besagt, dass Pflegepersonal durch die Belastung beim Heben oft unter Rückenproblemen leidet, lieferte ein weiteres Argument.

Firmengründung nach der Uni

Der Erfinder wollte keine Zeit verlieren: "Eine Woche nach Beenden des Studiums habe ich mit der Umsetzung begonnen", sagt Bliem. Gemeinsam mit seinem Studienkollegen Christian Miletzky, "der gut im Prototypenbau ist", gründete er im September 2009 das Unternehmen Camarg. Der Name zeugt von einiger Assoziationsleistung: Die Wildpferde der Camargue in Südfrankreich, "die im Alter weiß und schöner werden", standen Pate für den Freiheitsgedanken, den die Menschen auch mit dem Stuhl verbinden sollten.

Seit der Unternehmensgründung haben die beiden dann "einen Prototypen nach dem anderen" gebaut. Das Projekt gewann einige Innovationspreise, die Entwicklung wurde unter anderem auch von der Förderbank Austria Wirtschaftsservice unterstützt.

Der erste Prototyp, der gebaut wurde, ist jetzt Bliems Bürostuhl. Bei dem Modell müsse man noch aufpassen, dass man nicht runterfällt, wenn man sitzend etwas vom Boden aufheben will. Jetzt, viele Prototyp-Generationen später, kann das nicht mehr passieren. Erste Bestellungen gibt es schon. Eine Charge von 50 Sesseln soll im November bereitstehen.

Das Problem mit dem Preis

Interesse gebe es von vielen Seiten, so Bliem. In den Seniorenheimen seien sie "begeistert". Das einzige Problem: der Preis. Eine Aufstehhilfe für brutto 1800 Euro pro Stück können sich viele öffentliche Heime nur schwer leisten, auch die Krankenkassen schießen nichts zu. In Deutschland bekommen zwar Aufstehhilfen einen Zuschuss, der Chelino gilt aber als Möbelstück. Für eine industrielle Fertigung, die das Produkt billiger machen könnte, fehlt es Camarg - zumindest noch - an Ressourcen. Für Private mag es vielleicht eher interessant sein, hofft der Erfinder: Wenn man mit dem Möbelstück das teure Pensionistenheim noch etwas hinausschieben kann, zahle es sich schnell wieder aus. Aber auch an die Entwicklung eines flexibleren Krankenhausmodells wird gedacht.

Im Moment bauen die beiden Gesellschafter die 26 Kilo schweren Stühle noch in ihrer Werkstatt zusammen. Sie sind gerade noch klein genug, um sie mit der Post verschicken zu können. Die Bauteile kommen aus der ganzen Welt: Die Dreh- und Frästeile werden in China gefertigt, das Stuhlgestell in Rumänien. Die Gasdruckfedern kommen aus der Türkei und aus Deutschland. Immerhin die Armlehnen kommen aus Österreich. Alles in Österreich produzieren zu lassen wäre nicht leistbar, so Bliem. Eine abgespeckte Variante des Chelino, an der die beiden Unternehmer im Moment arbeiten, zielt auf einen deutlich günstigeren Verkaufspreis unter 1000 Euro ab. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. Oktober 2011)