Aribert Mog in "Eine Dirne ist ermordert worden".

Foto: Filmarchiv Austria

In der Villa eines Fabrikanten hat sich vornehme Gesellschaft zu einem sommerlichen Fest eingefunden. Oben auf der Terrasse wird die Tochter des Hauses gerade von einem lästigen Verehrer umgarnt, als ihr Blick auf den Garten fällt. Von dort unten wird sie ebenfalls sehnsüchtig angeschaut. Von einem Arbeiter, dem sie nicht lange zuvor erstmals begegnet ist.

Nicht nur der Inszenierung dieser klassischen Dreieckssituation begegnete der Mann an den Turn-tables schräg vor der Leinwand am Sonntagnachmittag mit Feingefühl und zarter Verfremdung: JSX alias Jorge Sánchez-Chiong spielte zur Fabrikantenparty kurzerhand ein luftiges spanisches Liedchen ein, welches passend abgedämpft auch das Ohr des sich dem Anwesen nähernden Arbeiters erreichte. Der in Wien lebende Musiker und Komponist setzte auch sonst überraschende Akzente, entwickelte wiederkehrende musikalische Themen, Verstärkungen der und auch Kontrapunkte zur Schwere der behandelten Thematik.

Immerhin ging es im Gesellschaftsdrama Alle Räder stehen still von Franz Höbling aus dem Jahr 1921 um angewandten Klassenkampf: Die Fabrikantentochter (verkörpert von der Wiener Theaterschauspielerin Magda Sonja) wird ihrem Gefühl nachgeben, aber Glück wird ihr so bald nicht beschieden sein. Erst die nächste Generation kann dann mit Verhandlungsgeschick und selbstlosem Einsatz vollenden, was zunächst nicht gelingt - eine faire Entlohnung der Belegschaft, das Ende von Streik und Gewalttätigkeiten und ein Happyend auf privater Ebene.

Das Filmarchiv Austria setzt im Metro-Kino die Reihe Silent Masters. Österreichisches Stummfilmkino der Zwanziger Jahre fort, deren erster Teil im Vorjahr ebenfalls während der Viennale im Metro-Kino zu sehen war. Fixer Bestandteil der insgesamt zwölf Termine ist die Live-Vertonung der Laufbilder durch namhafte zeitgenössische Improvisateure und Elektronikexperimentalisten. Das Filmschaffen der Zwanziger Jahre präsentiert sich dabei als Querschnitt durch alle Gattungen: vom Melodram übers Lustspiel bis zur Literaturverfilmung und zum Krimi. Kurze Vorfilme erweitern das Spektrum noch um Industrie- und Werbefilme sowie dokumentarische Miniaturen und Aktualitäten - beispielsweise zur Sonnenfinsternis am 8. April 1921.

Anschließend verdunkelte sich im zweiten Programm in Ihre Vergangenheit (1921, Sidney M. Goldin) das Leben einer glücklichen Ehefrau und Mutter durch das Zutun eines böswilligen Hausfreunds ganz fürchterlich. In diesem Fall wirkte auch das Zusammenspiel mit dem Live-Musiker - Thomas Lehn am analogen Synthesizer - weniger glücklich, es deckte den Film über weite Strecken vor allem lautstark zu. Dafür erwies sich Magda Sonja auf der Leinwand auch hier als große Frauenschicksalsdarstellerin. Ein Londoner Schriftsteller engagiert sie von der Straße weg, weil ihm der Stoff für einen Literaturwettbewerb fehlt. Ihre Geschichte führt von Großbritannien über Paris bis an Wiener Schauplätze.

Heute, Dienstag, werden Susanna Gartmayer (Bassklarinette) und Tamara Wilhelm (selbstgebaute Elektronik) das Programm Nummer Fünf bestreiten: Frau Dorothys Bekenntnis, in dem sich die anfangs freiheitsliebende, abenteuerlustige Titelheldin in blinder Liebe einem echten Schurken ausliefert und daran fast zu Grunde geht. Ein ebenso kunstvoll wie aktionistisch inszeniertes Melodram, das Michael Kertész, der nachmalige Hollywood-Regisseur Michael Curtiz, 1921 für die Sascha-Film betreute.

Programm Nummer Sechs - Alexander Kordas Versunkene Welt von 1922 - wird vom Duo Cilantro (Billy Roisz und Angélica Castelló) begleitet, und gegen Ende der Viennale sind dann im Metro-Kino noch zwei deutsche Experimentalmusik-Kapazunder am Werk:FM Einheit trifft auf das Lustspiel Der Geliebte seiner Frau (1928) von Max Neufeld und Dieter Moebius auf das Sensationsdrama Eine Dirne ist ermordet worden (1929) von Conrad Wiene. (Isabella Reicher, DER STANDARD - Printausgabe, 25./26. Oktober 2011)