Nadia el Fani (51), in Tunesien als Tochter einer Französin und eines Tunesiers aufgewachsen, arbeitete als Assistentin von Roman Polanski und Franco Zeffirelli, bevor sie in den 1990er-Jahren selbst Kurz- und Dokumentarfilme zu drehen begann. Die Themen drehen sich oft um die Rolle der Frau im Maghreb. 2005 präsentierte el Fani beim Filmfestival von Tarifa ihren ersten Spielfilm, "Bedwin Hacker". 2011 wurde ihr Dokumentarfilm "Secularism Inch'allah" in Tunesien Ziel eines Anschlags.

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Tunesien wählt am Sonntag eine verfassunggebende Versammlung. Die Filmemacherin Nadia el Fani sieht in den Islamisten, die sie attackieren, eine Gefahr für die künftige Entwicklung, wie sie Stefan Brändle in Paris erläuterte.

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STANDARD: Bei der Vorführung Ihres Dokumentarfilmes über die Religion in Tunesien im Sommer gab es eine Attacke. Wie geschah das?

El Fani: 30 junge Männer stürmten den Saal, zerstörten die Sessel, verletzten mehrere Leute und drohten einzelnen Gästen, sie würden ihnen die Kehle durchschneiden. Nicht alle Täter trugen einen Bart, es waren auch junge Agitatoren darunter. Die Polizei vor dem Saal brauchte seltsamerweise eine halbe Stunde, bis sie einschritt und die Eindringlinge abführte.

STANDARD: Das war kein Einzelfall. Eine Fernsehstation wurde jüngst gestürmt, weil sie den Film "Persepolis" der Iranerin Marjane Satrapi ausstrahlte, in dem kurz eine Zeichnung von Gott zu sehen ist.

El Fani: Und der Direktor entschuldigte sich dafür! Dabei war es bloße Einschüchterung. Die DVD von Persepolis ist in Tunesien seit langem im Handel. Aber jetzt, vor den Wahlen, wollen die Islamisten Druck machen. Man darf nicht nachgeben. Nach der Attacke gegen meinen eigenen Dokumentarfilm führten wir ihn trotzdem vor, obwohl der Saal zerstört war und wir noch unter dem Schock der Attacke standen.

STANDARD: Ihr Film ist religionskritisch, aber keineswegs blasphemisch.

El Fani: Das sind nur Vorwände. Ennahda, die Islamistenpartei, verurteilte die Gewalt gegen mich, meinte aber gleichzeitig, ich sei "zu weit" gegangen.

STANDARD: Inwiefern?

El Fani: Das frage ich diese Rasenden auch. Aber sie antworten nicht. Sie bestimmen einfach, was "zu weit" geht. Das ist das Schlimme. Diese Partei ist noch nicht einmal an der Regierung und will bereits die Meinungsfreiheit einschränken.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Stärke von Ennahda ein?

El Fani: Laut Umfragen dürfte sie bei den konstituierenden Wahlen am Sonntag 20 bis 25 Prozent der Stimmen erzielen. Das ist viel, zugegeben. Aber es bedeutet auch, dass drei Viertel der Tunesier gegen sie sind und ihr nicht auf den Leim gehen. Sie sind die tendenziösen Tiraden und die Methoden von Ennahda gewohnt.

STANDARD: Wieso denn? Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi war bis zur Revolution im Exil.

El Fani: Ben Ali (der gestürzte frühere Präsident, Red.) unterdrückte die Islamisten, kam ihnen aber auch entgegen, was weniger bekannt ist: Er führte das Fernsehgebet und Ramadan-Normen für Restaurants ein; sein Schwiegersohn gründete einen Radiosender, der nur den Koran verliest, und unterstützte Ghannouchi. Das geschah wohl nicht aus religiösen Motiven, sondern um die Bewegung zu instrumentalisieren.

STANDARD: Heute wollen aber auch progressive Politiker mit Ennahda eine Koalition eingehen.

El Fani: Das wäre ein großer Fehler. Die reaktionären Kräfte kehren sich immer gegen das Volk, wie man auch im Iran gesehen hat.

STANDARD: Befürchten Sie, dass die Islamisten den Arabischen Frühling konfiszieren?

El Fani: Natürlich besteht die Gefahr - aber sie ist nicht neu und keineswegs erst im Zuge der Revolution aufgekommen. Generell werden die Islamisten stark, wenn sich das Regime vom Volk entfremdet und nichts für die Bildung tut. So geschehen in Tunesien, so in Algerien, wo die Islamische Heilsfront schon in den 1990er-Jahren aufkam. Der Westen fürchtet sich dann jeweils vor den Gotteskriegern - nachdem er die diktatorialen Regimes und Machtverhältnisse gestützt hat, die der Nährboden für die Islamisten waren.

STANDARD: Was erwarten Sie von der Wahl am Sonntag?

El Fani: Ich bin eher optimistisch, dass die Leute wissen, wen sie wählen sollten. Seit der Revolution reagiert die Zivilgesellschaft regelmäßig, wenn diese wütenden Religiösen auf den Plan treten. Die Tunesier wissen: Wenn man es einmal an Mut mangeln lässt, bezahlt man später dafür. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.10.2011)