Nuruddin Farah: "Einige haben Interesse daran, dass Somalia unregierbar bleibt."

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STANDARD: Sie mussten wegen Tyrannei und Diktatur von Siad Barre Ihre Heimat verlassen. In den arabischen Ländern entledigt man sich nun der Tyrannen ....

Farah: ... aber ich hege wenig Hoffnung für den Arabischen Frühling. Der war vorbei, ehe er begonnen hat. Ein Mann des Militärs - Mubarak - wurde durch eine Militäroligarchie ersetzt! Auch aus Tunis erfahren wir keine guten Nachrichten. Ich habe im März an der amerikanischen Universität in Kairo unterrichtet und mitbekommen, dass junge Frauen, die am Tahrir-Platz demonstriert hatten, von der Polizei gedemütigt wurden, indem man ihre Jungfräulichkeit überprüfte und den Eltern mitteilte, dass die Töchter keine Jungfrauen mehr seien.

STANDARD: Und Gaddafis Tod?

Farah: Prinzipiell hätte ich begrüßt, wenn man ihn vor ein Gericht gestellt hätte, damit er Gründe für seine Taten nennt. Aber es ist eine Lektion für alle Diktatoren: Früher oder später erwischt es euch. Und ihr sterbt einsam.

STANDARD: Sie waren der erste Schriftsteller, der einen Roman auf somalisch verfasst hat, was Ihnen Schwierigkeiten einbrachte ...

Farah: Die somalische Schriftsprache wurde erst im Oktober 1972 erfunden, 1973 veröffentlichte ich einen Fortsetzungsroman in einer Zeitung auf somalisch, mit dem Hintergedanken, daraus ein Buch zu machen. Aber dann lud mich die Zensurbehörde vor, ich sollte etwas erklären. Ich, jung und frech, sagte, das sei Literatur. Und Literatur erklärt man nicht. Man drohte mir mit Haft, ich gab nicht nach. Daraufhin wurde ich zur Unperson erklärt, es durfte nichts mehr von mir erscheinen. Aber auch, wenn man mich zum Schweigen brachte: Andere Autoren schreiben auf somalisch.

STANDARD: Sie gingen ins Exil.

Farah: Ich hatte Mitte der 1970er- Jahre in London studiert, am Theater gearbeitet und wollte nach zwei Jahren zurück. Doch die Heimkehr fiel mit dem Erscheinen meines Romans zusammen. A Naked Needle war eine Satire auf die somalische Diktatur. Mein Bruder rief an: Er hatte aus dem Justizministerium erfahren, dass man mich für zumindest 30 Jahre einsperren wollte.

STANDARD: Sie leben in Kapstadt. Gelten Sie in Somalia immer noch als Persona non grata?

Farah: Ich war zuletzt im Frühjahr in Somalia. Doch ich erhalte nach wie vor Todesdrohungen. Allerdings kann es dort jedem passieren, von einer verirrten Gewehrkugel erschossen zu werden. Es herrscht brutale Gewalt. Doch solange ich in Afrika lebe, bin ich ein sehr glücklicher Mensch. Wenn ich verreise, so in dem Wissen, dass ich nach Afrika zurückkehre.

STANDARD: Sie schreiben nur über Somalia. Ist das bürgerkriegszerrüttete Land Ihr Sehnsuchtsort?

Farah: Ich könnte maximal zehn Seiten über einen anderen Ort schreiben. Somalia ist meine Obsession, ich liebe es, verstehe seine Psychologie, seine Geschichte.

STANDARD: Welche Hoffnungen gibt es nach 20 Jahren Bürgerkrieg?

Farah: Viele! Der Bürgerkrieg ist natürlich eine humanitäre Tragödie. Aber in der Geschichte eines Landes sind 20 Jahre nicht viel. Denken Sie an den Dreißigjährigen Krieg. Da gab es ähnliche Probleme, religiöse Richtungskämpfe, eine uninformierte und ungebildete Gesellschaft sowie soziale Ungerechtigkeit.

STANDARD: Sie schreiben oft über die Unterdrückung der Frau ...

Farah: ... weil ich das für ein Grundübel halte. Fünfzig Prozent der Somalier sind in Ketten der Unwissenheit gefangen! Mein Vater wollte nicht, dass meine Schwestern zur Schule gehen. Als ich sagte, ich würde das Schulgeld bezahlen, hätte mein Vater vielleicht gern geantwortet: "Warum verschwendest du das Geld an Mädchen, die dann heiraten? Gib es mir, dann könnte ich mir neben deiner Mutter eine Zweitfrau leisten."

STANDARD: Welches Verhältnis hatten Sie zu Ihrer Mutter?

Farah: Ein sehr enges. Ich fühlte ihr Leid, ihre Sehnsüchte. Sie war eine unbedeutende Dichterin. Als Mann wäre sie vielleicht ein großer Dichter geworden. Diese Bruchlinien der Gesellschaft möchte ich mit meinen Romanen aufzeigen.

STANDARD: Ist diese Ungleichbehandlung ein religiöses Problem?

Farah: Auch. Vor allem aber es ist eine Frage der Bildung. Wären Frauen besser gebildet, wüssten sie mehr über Religion. Warum sind sie so schlecht ausgebildet? Weil Männer es so wollen. Denn wären sie gebildeter, würden sie ihre Männer zur Hölle schicken.

STANDARD: Viele Menschen flüchten vor Bürgerkrieg und Hungersnot, aber die westliche Welt macht zunehmend die Grenzen dicht. Wie kann, wie soll Europa mit den Flüchtlingsströmen umgehen?

Farah: Europäer haben ein kurzes Gedächtnis bezüglich ihrer eigenen Geschichte. Denn als auf diesem Kontinent Menschen Hungers starben, Lebensmittel knapp waren, flüchteten sie nach Übersee. Was, wenn man sie damals alle wieder zurückgeschickt hätte? Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt nicht mehr in jenen Ländern, in denen ihre Eltern geboren wurden. Man kann niemanden dorthin zurückschicken, von wo er kommt. Insgesamt leben dreißig bis vierzig Millionen deutschsprachige Menschen in den USA, in Kanada, in Australien oder Südafrika: Was, wenn man sie zurückschickt? Deutschland könnte sie nicht aufnehmen.

STANDARD: Was entgegnen Sie jenen, die sagen, dass die Aufnahmekapazitäten beschränkt sind?

Farah: Es gibt eine Lösung: Wenn es einem Land wirtschaftlich gut geht, will niemand weggehen, da er seine Heimat liebt. Aber wenn es einem Land schlecht geht, wandern die Bewohner aus. Also: Hört auf, ihre Länder auszubeuten, ihre Ressourcen zu rauben. Korrupte europäische Ausbeutungsmethoden und die Korruption der politischen Klasse in Afrika verursachen Bürgerkriege, vertreiben Menschen aus ihrer Heimat.

STANDARD: Was kann die Welt tun, um Somalia zu helfen - außer mit Spenden das Gewissen beruhigen?

Farah: Alle Formen der Tyrannei isolieren! Jedenfalls nicht wie bisher, indem man bei Hungersnöten mit Geld und Lebensmitteln hilft und auf das Land vergisst. Man muss aufklären, wer die Verantwortung für die humanitären Katastrophen trägt: die gegenwärtige Regierung, das sind die Kriegsherren. Es gibt Krieg, wer profitiert davon? Einige haben Interesse daran, dass das Land unregierbar bleibt. Der Uno-Sicherheitsrat, der internationale Gerichtshof müssten die Brutalisierung der somalischen Gesellschaft analysieren, das Übel an der Wurzel angehen. Tyrannei produziert Hungersnot. Demokratie produziert Lösungen. Hunderttausende Menschen sind vor der Hungersnot geflohen, hunderttausende sind gestorben. Hunger ist ein politisches, kein humanitäres Problem. (Andrea Schurian, DER STANDARD - Printausgabe, 22./23. Oktober 2011)