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Tschetschenische Kämpfer im Zweiten Tschetschenien-Krieg: Mehr als 20 000 Menschen sind vor dem Konflikt in der russischen Teilrepublik nach Österreich geflüchtet.

Foto: reuters

Schon im Jahr 2002 seien sie ihm in den Deutschkursen aufgefallen, die Tschetschenen, erzählt Siegfried Stupnig, Psychologe und Sozialarbeiter aus Kärnten: "Die Tschetschenen hatten einen besonderen Leidens- und Erzähldruck. Ich habe zahlreiche interessante Familien kennengelernt, mit viel Potenzial. Leider werden die wenigsten von ihnen hier ihren Qualifikationen entsprechend eingesetzt."

Berüchtigt, aber wenig bekannt

Die Tschetschenen - hierzulande eine prominente Volksgruppe, über die man zeitweise viel hört, aber doch relativ wenig weiß. Mehr als 20 000 Menschen sind in den letzten Jahren vor dem Krieg in der russischen Teilrepublik nach Österreich geflüchtet. Die Berichterstattung über die Tschetschenen läuft meist dann auf Hochtouren, wenn gewaltsame Zwischenfälle stattfinden, in den Asylunterkünften oder im Zusammenhang mit dem russischen Geheimdienst. Dann wird zuweilen intensiv über die Gewaltbereitschaft tschetschenischer Männer und den "importierten" Kaukasuskonflikt spekuliert. Vor allem in Kärnten, wo gerade einmal 1000 von ihnen leben, wurden die Tschetschenen in den letzten Jahren zum stark umstrittenen Politikum.

"Es stimmt schon, dass manche junge Tschetschenen durch die langen Kriege aus der Bahn geworfen wurden und sich aus Mangel an Kommunikationsmöglichkeiten mit Gewalt durchsetzen wollen", räumt Stupnig ein, der im Rahmen des Vereins Aspis seit 2003 tschetschenische Flüchtlinge psychologisch betreut. "Aber überall gibt es junge Männer, die durch Kriminalität und Gewalt auffällig werden, das ist bei den Schweizern, den Franzosen und den Inuit nicht anders", gibt Stupnig zu bedenken.

"Keine Untertanenmentalität"

Warum aber ausgerechnet die Tschetschenen medial und politisch massiv mit Gewalttaten in Verbindung gebracht werden, erklärt Stupnig so: "Es ist ja nicht so, dass es in Kärnten vor den Tschetschenen keine Feindbilder gegeben hätte." Als Beispiele führt er die Kärntner Slowenen, Juden, Roma und Sinti, und Bosnier an.
Die Tschetschenen würden auch zusätzlich Angriffsfläche bieten, weil sie ein auffälliges Auftreten an den Tag legten: "Die Tschetschenen wollen nicht als Bittsteller auftreten. Sie hauen schon mal auf den Tisch, weil sie staatliche Leistungen nicht als Almosen sehen, sondern diese einfordern, wenn sie wissen, dass sie ihnen zustehen."

Warum das so sei? - Stupnig führt aus: "Bei den Tschetschenen gibt es keine Untertanenmentalität, die in Österreich doch sehr verbreitet ist. Tschetschenische Flüchtlinge organisieren Protestaktionen, wenn die Bedingungen in den Heimen sehr schlecht sind, trotz Drohungen wie etwa, dann hau'ma euch eben aus der Grundversorgung raus."

"Staatlich verordnete Mitleidlosigkeit"

Bereits vor neun Jahren hatte Stupnig im Rahmen von ehrenamtlichen Integrationsprojekten damit begonnen, den Kontakt tschetschenischer Flüchtlinge mit der Kärntner Bevölkerung zu ermöglichen und zu intensivieren. Die Idee war, der "staatlich verordneten Mitleidlosigkeit" entgegenzutreten und sich gegen die "moralische Verwahrlosung" in der Kärntner Flüchtlingspolitik einzusetzen. Nachgefragt, ob denn "staatliches Mitleid" das sei, was die Flüchtlinge bräuchten, holt Stupnig weiter aus: "Mitleidlosigkeit meint die gesamte radikale Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, Personengruppen aus Versorgungskreisen auszuschließen. Mitleid wollen die Leute natürlich nicht, sondern Empathie, dass man ihnen zuhört. "
Mehr Familienbetreuung

Aber zurück zum Thema Gewalt: Diese spielt sich nicht nur zwischen Jugendbanden und Geheimdienstkollaborateuren ab, sondern oft auch in der Familie, und trifft am härtesten die Frauen, von denen viele in Westeuropa für sich die Möglichkeit sehen, aus starren patriarchalen Verhältnissen auszubrechen und ein unabhängigeres, moderneres Leben zu führen. Auch hier warnt Stupnig vor Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen: "Man muss aufpassen, dass man das Thema Gewalt in der Familie nicht bei den Asylwerbern ablädt und dieses Thema nicht zu sehr in den Vordergrund spielt. Gewalt in Flüchtlingsfamilien hat viele Ursachen, und hier muss man Aufklärung betreiben und den Männern ganz klar sagen, dass wir Gesetze haben, die Frauen vor Gewalt schützen" Mehr Familienbetreuung tut Not, ist Stupnig überzeugt.

Kein Interesse an Propagandareisen

Ob er selbst schon einmal in Tschetschenen gewesen sei? - Der "trotz allem eingefleischte Kärntner" verneint: "Das hat sich noch nicht ergeben. Ich habe eine Einladung von einem Haus- und Hofreporter des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow bekommen. Er wollte mir zeigen, wie toll alles in Tschetschenien sei. Aber an Propagandareisen bin ich nicht interessiert" Wenn sich die politische Lage verbessert, möchte er gerne in die Kaukasusrepublik reisen und Verwandte von seinen tschetschenischen Freunden, die er in Kärnten kennengelernt hat, besuchen. Auf einen anschließenden Reisebericht darf man gespannt sein. (Mascha Dabić, daStandard.at, 19.10.2011)