Gestrandeter Wal oder gefrorene Welle: Das Wasserkraftwerk an der Iller in Kempten ruft bei Besuchern reichhaltige Assoziationen hervor. Für eine Stadt, die seit je von Idylle und Industrie geprägt ist, eine perfekte Lösung.
Fotos: Brigida Gonzalez

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Sanfte grüne Endmoränen, herber Bergkäse, das Märchenschloss Neuschwanstein, ein als eigensinnig und rebellisch geltender Menschenschlag und reichlich Regen: Für diese Dinge ist das Allgäu im Südwesten Bayerns bekannt. Ganz nebenbei sammelt das Allgäu aber auch preisgekrönte Architektur. Die jüngste dieser Auszeichnungen, der Deutsche Architekturpreis (zweiter Platz), wurde am Donnerstag feierlich vom Bundesbauminister verliehen. Sie ging an dasselbe Bauwerk wie schon die vorigen zwei Preise: an das Wasserkraftwerk in Kempten von Becker Architekten.

Kraftwerke sind für die 62.000-Einwohner-Stadt nichts Neues. Idylle und Industrie gehen im Allgäu seit langem Hand in Hand. Bereits 1852 kam die Eisenbahn, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt zum Zentrum der Textilindustrie. Die Energiequelle für die Maschinen wurde praktischerweise gratis vor die Haustür geliefert: Die Iller, der Fluss mit dem steilsten Gefälle in Europa, fließt mitten durch den Ort.

Mehr als ein Dutzend Wasserkraftwerke, massive Querriegel im Strom, leiten die alpinen Wassermassen durch ihre Turbinen. Im Juli 2010 ist ein weiteres dazugekommen, und es ist kein Riegel. Vielmehr scheint ein schlanker weißer Wal im eisgrünen Wasser gestrandet zu sein, dessen geschwungene Form sich an der steilen Uferkante entlangschlängelt.

Mehr als eine Umhüllung

"Hier hat jeder seine eigenen Assoziationen - mal Fisch, mal Gletscher, mal gefrorene Welle", lacht Architekt Michael Becker, der entspannt an der Ufermauer lehnt. Und er selbst? "Uns sind bei der ersten Begehung diese bizarren Gesteinsformationen im Flusslauf aufgefallen. Die weichen, vom Wasser geschliffenen Konturen mit ihren Abbrüchen und Höhlungen sind dann zum Leitbild unseres Entwurfs geworden." Mit dieser Idee gewann das ortsansässige Büro, bis dahin eher für solide, kantige Wohnbauten aus Holz bekannt, 2006 den Wettbewerb, den der Kraftwerksbetreiber, die Allgäuer Überlandwerke (AÜW), ausgeschrieben hatte.

Dabei ging es um weit mehr, als nur eine Umhüllung für Turbinen zu finden. Das Ensemble aus dem 19. Jahrhundert - Spinnerei rechts, Weberei links des Flusses und ein filigraner Steg dazwischen - steht unter Denkmalschutz, die letzten Betriebe waren aber längst abgesiedelt. 1996 kaufte die Stadt das Areal. Dank der malerischen Lage am Fluss mitten im Ort schien ein Umbau der heruntergekommenen Ziegelbauten zu Wohnungen ideal. Der Haken: Das alte Kraftwerk aus dem Jahre 1956, dessen Turbinen 24 Stunden am Tag dröhnten.

"Im Sommer hat man das Pfeifen drei Kilometer weit gehört", erinnert sich Werner Leege vom AÜW, der neben Michael Becker am Ufer steht. "Jetzt hat das Kraftwerk fast Wohnzimmercharakter." Tatsächlich: Nur ein leises, sanftes Summen erklingt aus dem weißen Wal - das gesamte Kraftwerk wurde auf einen Teppich aus Schaumgummi gesetzt, die fast unsichtbaren Öffnungen wurden auf ein Minimum beschränkt.

Kombination von Infrastruktur und Architektur

Das Schallproblem war gelöst, und auch das Kraftwerk selbst hätte man, wie sonst auch, ganz den Ingenieuren überlassen können. Tat man aber nicht. Dafür war der Ort für die Stadt zu wichtig. Den zukünftigen Bewohnern und Touristen musste man mehr bieten als eine in den Fluss gestellte Kiste. Und wenn weltweit bei Museumsbauten die Architektur immer mehr als Magnet fungiert, warum sollte sie das nicht auch bei einem Wasserkraftwerk tun?

Das Resultat: eine gelungene Kombination von Infrastruktur und Architektur. Durch eine feine, aber sichtbare Fuge getrennt, sitzt Letztere wie ein schützender Deckel auf der Anlage zur Stromgewinnung. Gleichzeitig macht sie deren Funktion sichtbar.

"Wir wollten eine Form finden, die diese Art der Energiegewinnung symbolisiert, aber nicht banal ist", erklärt Michael Becker. "Das Einströmen der Welle in den Einlaufkanal, der in weichen Formen verläuft, dann ein Schwingen von links nach rechts, am Kraftzentrum der Welle bricht sich schließlich der Grat des Betons und rollt aus ins Unterwasser."

Beinahe sakrale Hohlräume

Dass dieses Formenspiel mit der Poetik der Hydrologie weit mehr als reine Behübschung ist, zeigt sich an der Sorgfalt der Oberfläche, die den Bau wie eine Haut mit feinen eingestreuten Steinen überzieht, und an der millimetergenauen Präzision des darunter liegenden Gerüsts aus Stahlbetonrippen, in dem keine Stelle der anderen gleicht. Gebäude und Landschaft zugleich, macht das Bauwerk dem denkmalgeschützten Ensemble am Ufer keine Konkurrenz. Nur dort, wo sich der diskrete Eingang befindet, schwappt die steinerne Welle kurz über den neu angelegten Fuß- und Radweg am Ufer.

"Anfangs waren wir noch skeptisch gegenüber der Form, aber jetzt sind wir begeistert", erinnert sich Werner Leege, der schon mehr als 1000 neugierige Besucher durch das Innere des Baus geführt hat. "Viele wollen gar nicht mehr gehen, die muss man regelrecht nach Hause begleiten!"

Sie sind fasziniert von den Daten, die Leege routiniert abspult - wie die 3000 Haushalte, die die zwei Turbinen pro Jahr versorgen können - und staunen über das Labyrinth an beinahe sakralen Hohlräumen, das sich unter dem Beton verbirgt. Die Kinder spähen hinunter, ob sich auf der 46 Meter lange Fischtreppe gerade ein Lachs illeraufwärts schlängelt. "Viele fragen natürlich nach den Kosten. Mit 15 Millionen Euro liegen wir aber im Rahmen eines normalen Kraftwerks."

Die Kalkulation ist also voll aufgegangen, stimmt Michael Becker zu. "Das Kraftwerk ist ein perfektes Marketingobjekt geworden, es passt genau in den Zeitgeist", sagt der Architekt. "Alle haben an einem Strang gezogen, und so ist es eine Win-win-Situation für alle geworden" - und ein weiterer Stein im Mosaik des Allgäus. (Maik Novotny, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16.10.2011)