"Nur weg": Das Foto ist Stefan Moses' Fotoband "Ilse Aichinger" (S. Fischer) entnommen, der auch ausgewählte Texte der Autorin enthält.

 

Foto: Hammerbacher

Unangepasst. Und zugleich diese Paradoxie: Lebens- und Verschwindenslust: Ilse Aichinger mit Stan Laurel und dem 2004 verstorbenen Literaturkritiker Richard Reichensperger.

 

Foto: Hammerbacher

Christoph W. Bauer (43) hat zahlreiche Lyrik-, Essay- und Prosabände sowie Hörspiele geschrieben. Er lebt in Innsbruck. Zuletzt erschien von ihm bei Haymon der Gedichtband "mein lieben mein hassen mein mittendrin du".

 

Foto: Florian Schneider

Eine Würdigung von Christoph W. Bauer.

Als wäre ich in einen Film geraten, freilich nur als Statist, Hauptdarsteller ist ein anderer, ich kenne ihn von Kindheitstagen an. Wie aber habe ich mir die Auszeichnung verdient, von diesem Pappkameraden beäugt nicht einschlafen zu können in einem Bett im ersten Wiener Gemeindebezirk?

Kein literarischer Preis könnte mir Laurels Blick mit Geld aufwiegen, keine mich noch so überschätzende Lobeshymne im Feuilleton, morgen ohnehin schon Altpapier, würde mir in diesen Momenten mehr schmeicheln als Stans kartonierte Anwesenheit.

Und wie er mich adelt mit seinem gütigen und zugleich so belämmerten Lächeln! Mir will scheinen, gleich beugt er den Kopf etwas nach vorn, säuselt in Walter Bluhms falsettartiger Synchronstimme: "Ach, Ärmster, kein Auge bringst du zu?"

Eine Szene erinnere ich plötzlich, weiß nicht mehr, aus welchem Film, Stan gibt einem Mädchen eine Gutenachtgeschichte zum Besten, sie jedoch kennt die Geschichte, nimmt ihm die Worte aus dem Mund, erzählt und lullt ihn somit langsam in den Schlaf.

Soll ich versuchen, ob es umgekehrt funktioniert, ihm erzählen, bis er, meiner Worte müde, sich ihrer bemächtigt und drauflosredet, auf dass mir die Augen zufallen? Erzählen vom Haus, in dem wir uns befinden, Anfang der 1930er-Jahre errichtet, nach 18-monatiger Bauzeit fertiggestellt. Erzählen vom Hof in traditioneller Ziegelbauweise, von Blockrandbebauung und Stahlskelett.

Erzählen von Persönlichkeiten, die hier wohnten im Hochhaus Herrengasse, Curd Jürgens, Paula Wessely, Oskar Werner - und ich schaue Stan an, flüstre: Wohnt nicht auch der Kehlmann hier? Keine Reaktion von Laurel, nun habe ich es also geschafft, ihn in den Schlaf zu schwafeln, während ich wach liege. Und um der Wut auf mich selbst Luft zu machen, sage ich laut: Ich frage mich, warum der Name der Dichterin, in deren Wohnung ich mich befinde, nicht in die Liste der Persönlichkeiten aufgenommen wurde, die das Web ausspuckt.

Da herrscht mich Doof unverhofft an: Du Blödian, hättest du nur etwas Grips, wüsstest du, dass ihr das eigentlich ganz recht ist. Und legt nach: Erzähl mir lieber, wie du sie kennengelernt hast.

Im Herbst 2004 treffe ich den Gründer der Edition Korrespondenzen, Franz Hammerbacher, im Café Jelinek in Wien. Gegen Mittag dirigiert er meinen Blick an einen der Tische - er wolle mich ihr vorstellen. Ich zögere zunächst, sie schreibe doch gerade, das tue sie immer um diese Zeit, erwidert er und erzählt mir von ihren täglichen Schreibstunden, früher im Demel, jetzt im Jelinek, stets von 10 bis 13 Uhr.

Er ahne bereits, woran sie heute arbeite, schließlich sei er gestern Abend mit ihr im Café Engländer gewesen und die Abendgespräche fänden meist direkten Eingang in ihre Texte. Wir treten also an ihren Tisch, Hammerbacher macht uns bekannt, zeigt auf mich: Wir verlegen im Herbst sein Logbuch einer Reise ins Verschwinden. Sie schaut kurz auf, lächelt mich an und sagt: "Das Verschwinden, junger Mann, ist eigentlich mein Thema." So lernte ich Ilse Aichinger kennen, deren Bücher mich seit Jahrzehnten begleiten.

Ihren Roman Die größere Hoffnung zog ich aus der Schultasche, ihre Gedichte Verschenkter Rat reisten mit mir nach Paris, Unglaubwürdige Reisen dann im Schwarzwald, Kleist, Moos, Fasane, ich muss in meiner Wohnung nicht zweimal nachsehen, weiß genau, wo der Erzählband steht. Obwohl und vielleicht gerade weil wir so unterschiedliche literarische Ansätze verfolgen, geht mir ihr Werk nah - und wird mir Satz für Satz unerreichbarer. Selbstredend frage ich mich, wie sie das schafft, selbst in einer Glosse in der Plötzlichkeit eines Gedichts die Richtung zu wechseln, ganz da zu sein, indem sie sich entzieht. Und: Warum darf ihr das nur in Sätzen gelingen? Sie, die seit vielen Jahren verschwinden möchte, feiert bald ihren neunzigsten Geburtstag.

Immer noch wohnt sie im Hochhaus Herrengasse, rund um die Uhr von einer Pflegerin begleitet. Immer noch liebt sie Kaffeehäuser, lässt sich im Rollstuhl dorthin fahren. Immer noch lebt sie unangepasst. Letzteres hat mich seit je fasziniert, wie sie sich Rollenbildern entzieht, irgendwelchen Zuschreibungen, auch das eine Form des Verschwindens. Ihr Faible für Herrenkleidung, ihre Verweigerung des allzu Damenhaften, niemals eine Handtasche, stets ein Papiersackerl, in dem sie auch ihr Geld mit sich führt, nicht in einer Geldbörse, versteht sich.

Gewiss, gerieben habe ich mich oft an ihren Aussagen, sie nicht verstanden, sie nicht verstehen wollen, mir war der Blick vor Verehrung verstellt, sie öffnete ihn mir, indem sie nah am Wort blieb, bis auch ich endlich begriff, dass Todesarten nicht gleich Sterbensarten sind. Abgesehen davon, mich mag Herr Tod noch lange ignorieren, ich würde ihm, so ich könnte, die Tür nicht öffnen, sie aber ... Ist's Koketterie? Ihre Sätze bezeugen das Gegenteil: "Nur weg."

"Ich möchte um alles in der Welt nichts, das mich darstellt oder ins Licht bringt", sagt Aichinger einmal und: "Ich will eher etwas, das mich verbirgt und eben doch das enthält, was mir wesentlich ist, nicht das »Ich«, sondern das, was mir wesentlich ist." Und ein andermal, in einem Interview zu ihrem 75. Geburtstag: "Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich »privat«."

Unterbindet das nicht jeden weiteren Satz von mir? Aber auch wenn ich alles minutiös aufzählte, was ich in ihrer Wohnung gesehen habe, es bliebe in ihrem Sinn »privat«, stellte sie nicht im Geringsten dar. So wie auch die Fotografie, die mir Franz Hammerbacher zukommen ließ, sie nicht ins Licht bringt, sondern eben nur das, was ihr wesentlich ist: Der von Olli getrennte Stan, wie es dazu kam, beschreibt Aichinger in Unglaubwürdige Reisen; ein Foto von Richard Reichensperger, das blaue Halstuch, das sie von ihm bekommen hat, ein Mitbringsel aus Sankt Petersburg. Und die Bildkomposition, beinahe ihren Texten entnommen, diese spannungsvolle Dreieckskonstellation.

Ich frage mich plötzlich, wann ich zuletzt Günter Eich gelesen habe, mit dem Aichinger verheiratet war. Und wann ein Werk ihres Sohnes Clemens Eich? Ich frage mich, warum ich mich permanent frage, will ich mich infrage stellen? Selbst Stan beginne ich zu langweilen, er schiebt die Melone etwas in die Stirn, kratzt sich am Hinterkopf, als wollte er mich fragen: Was willst du sagen? Dass du, als du anfingst, ihre Bücher zu lesen, es dir niemals vorstellen konntest, ihr irgendwann persönlich zu begegnen, geschweige denn in ihrer Wohnung zu übernachten? Oder ist es die Eitelkeit, die dich in diese Zeilen treibt?

Ich halte mir rasch die Ohren zu, keine Frage. Franz Hammerbacher und Reto Ziegler, der nunmehrige Verleger der Edition Korrespondenzen, waren Ilse Aichinger jahrelang Reisegefährten, erzählten mir von Kaffeehaustouren, von Stunden im Kino. Manchmal, so Hammerbacher, sahen wir vier Filme hintereinander. Dabei ging es Aichinger nie um Filmhandlungen, der Kinobesuch entsprach ganz ihrer Vorstellung vom Verschwinden. Ins Theater gehen viele, um von sich reden zu machen, die Dunkelheit im Zuschauerraum eines Kinos aber saugt einen auf und überlässt der Leinwand das Sagen.

Die Kinobesuche wurden im März 2005 unterbrochen. Aichinger reiste nach Berlin, nach ihrer Rückkehr wurde sie krank, musste mehrere Monate in ein Sanatorium. Dadurch erst konnte ich in ihrer vorübergehend "freien" Wohnung übernachten. Ich war damals drauf und dran, mit Stan unterm Arm das Weite in Form einer Bar zu suchen, und erinnere jetzt eine Anekdote, die mir Hammerbacher erzählte. Erst kürzlich hatte er Lena Eich, die Tochter von Clemens Eich getroffen. Sie hatte ihm berichtet, dass sie vor gut zehn Jahren mit einer Freundin nachts durch die Innenstadt gezogen war. Gegen vier Uhr früh beschlossen sie, in die King's Bar zu gehen, ein Lokal, in dem um diese Uhrzeit die Lautstärke der Musik jegliche Unterhaltung erstickt. Als die beiden den Barraum betraten, sagte Lena Eich verdutzt: "Da drüben sitzt meine Großmutter!" - Ilse Aichinger mit einer Bloody Mary in der Hand.

Unangepasst. Und zugleich diese Paradoxie: Lebens- und Verschwindenslust. "Wir müssen uns selbst misstrauen", wirft Stan unvermittelt ein. Und ich frage mich nun tatsächlich, warum ich diese Seite fülle, warum es nicht andere tun, Hammerbacher zum Beispiel oder Ziegler.

Ich muss mir selbst misstrauen und mich fragen, wie Aichinger auf diesen Text reagieren würde, sagte sie vielleicht: "Verschwinden S', lassen S' mich endlich in Ruh?" Obwohl - Laurel biegt sich vor Lachen, indes ich in Gedanken ins Café Jelinek zurückkehre: "Das Verschwinden, junger Mann, ist eigentlich mein Thema."  (Christoph W. Bauer / DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.10.2011)