Stefan der Große war ein Herrscher auf dem Gebiet der heutigen Staaten Rumänien und Moldawien im 15. Jahrhundert. Er kämpfte gegen Tataren und Osmanen (und irgendwann sogar Polen), baute Klöster und Burgen, und konnte insgesamt das Machtgefüge in der Region keineswegs auf Dauer verändern.
Trotzdem ist Stefan cel Mare heute eine der wichtigsten historischen Bezugsfiguren für Menschen zwischen Chiºinau und Bukarest. Allenfalls einem Werk der Literatur könnte es nun zufallen, dass man irgendwann bei Stefan cel Mare nicht mehr an einen Kämpfer gegen die Heiden denkt, sondern an eine nach ihm benannte Prachtstraße in Bukarest, die Stefan-cel-Mare-Chaussee.
Mircea Cãrtãrescus Orbitor-Trilogie hat in einem Zimmer ihr Zentrum, das ein Fenster auf diese Straße hat. Das Fenster ist "dreiflügelig wie ein Barockaltar", darunter befindet sich ein Heizkörper, auf dem der Erzähler seine Füße abstützt, wenn er nach draußen blickt. Er heißt Mircea, wie der Autor auch, und es ist wohl im Wesentlichen auch tatsächlich seine Geschichte, die hier erzählt wird - eine Kindheit und Jugend im kommunistischen Rumänien.
Doch wie in so vielen großen Erzählprojekten der Weltliteratur ist dies nur ein Ausgangspunkt. Denn dieser Mircea geht in einem ganz und gar buchstäblichen Sinn aufs Ganze. Die Orbitor-Trilogie ist nicht nur eine Erinnerungs-, sondern auch eine Schöpfungsgeschichte, und die Realitätsebenen, die hier in den Blick kommen, sind so grandios ineinander verwoben, dass man an vielen Stellen von (mikro- wie makro)kosmischen Visionen sprechen muss und von einer Verschränkung aller Wissenschaften einschließlich der surrealistischen.
Wobei diese Aussage mit einem gewissen Vorbehalt zu treffen ist, denn die Orbitor-Trilogie liegt in deutscher Sprache noch nicht vollständig vor: Eben ist unter dem Titel Der Körper nach dem ersten Band Die Wissenden der zweite erschienen. Wer darüber hinaus schon nach vorn schauen möchte, muss entweder Rumänisch lernen oder aber die französische Übersetzung konsultieren, die bereits beim dritten Band angelangt ist. Man kann sich aber auch getrost dem Übersetzer Gerhardt Csejka anvertrauen (dem sich in diesem Fall Ferdinand Leopold angeschlossen hat): Große Dinge brauchen eben ihre Zeit.
Dies ist, ohne auf Kenntnis des rumänischen Originals urteilen zu können, dem intuitiven Anschein nach eine herausragende Übersetzungsleistung, deren Anstrengung und Glück Zeile für Zeile nachempfindbar werden, wenn man ein Summarium wie dieses zu lesen bekommt: "Denn all die Tatsachen deines Lebens: die Wohnungen, in denen du gehaust hast (Silistra, Floreasca, Stefan-cel-Mare, Uranus), die Gesichter, die du gesehen hast, die Bücher, die du gelesen, die Worte, die du gesprochen hast, die monströsen Bauten in deinen Träumen - Marmorpaläste, durch deren Portal Schmetterlinge hineinflattern, Statuen mit leeren, mottenbedeckten Augen, unmenschlich hohe Gewölbe, von deren Spitze schwere Spinnen mit gespreizten Beinen an glitzernden Fäden herabschweben -, die Straßenbahnen, in denen du gefahren bist, die Städte, durch die du kamst, was sonst sind all diese Dinge als von deinem Verstand zu illusorischen Konstellationen gruppierte Sterne."
Hier taucht das für Cãrtãrescu so zentrale Motiv des Perspektivwechsels auf, das er schon mit dem Motto etabliert, das er seinem Roman voranstellt. Die berühmte Stelle aus Paulus' erstem Korintherbrief, der zufolge wir durch einen Spiegel in die Ewigkeit schauen (bis dieser Spiegel eines Tages weggezogen wird), dient dem rumänischen Schriftsteller als Grundlage für ein Romanprojekt, das als Spiegelkabinett angelegt ist und in dem die erste Verdopplung ihn selbst betrifft. Mircea, oder Mircisor, wie er zärtlich von seiner Mutter genannt wird, ist in Orbitor drinnen und draußen zugleich, er ist Urheber und Gegenstand, und natürlich können diese beiden Mirceas niemals vollständig miteinander identisch werden.
Dies liegt an den Tücken und Wonnen der Erinnerung, und an den Aporien der Literatur: Auch ein noch so dichter Text vermag die Abgründe der Subjektivität nicht einzuholen. Bei Cãrtãrescu geht es nun aber ständig um Texte, Manuskripte, ja manchmal sogar um Textilien, die gewissermaßen Totalerzählungen sind.
In Der Körper bekommt diese Ambition ein grandioses Zentrum in der Geschichte von seiner Mutter, die nicht mehr arbeiten gehen kann, weil der kleine Mircea es in der Krippe nicht aushält, während der Vater von der Schlosserwerkbank auf die Journalistenschule geschickt wurde (so funktionieren Karrieren in einer Parteiendiktatur). "Mutter webte Perserteppiche." Mit diesem für Cãrtãrescu untypisch kurzen und trügerisch klaren Satz beginnt ein Kapitel, an dessen Ende verzweifelte Securitate-Agenten vor einem Weltteppich stehen, der alle geheimdienstlichen Erkenntnisse enthält - wenn sie ihn nur lesen könnten!
Doch dazu müssen sie ihn erst einmal in handhabbare Stücke schneiden, und damit zerstören sie ihn klarerweise. Kühner ist noch selten mit den Mitteln der Literatur die Totalität gegen den Totalitarismus eingewandt worden, zugleich ist dieses Kapitel große Satire, und es ist, in den Szenen, in denen der kleine Mircea seiner wegen der Hitze barbrüstig dasitzenden Mutter bei der Arbeit zusieht, auch ein höchst intimer Moment.
In dem ersten Band der Orbitor-Trilogie, in Die Wissenden, haben wir nicht nur die Geschichte von Mirceas Eltern erzählt bekommen, wir wurden auch Zeugen des Auszugs der Vorfahren Mirceas aus dem Bulgarischen in die rumänische Tiefebene. Unter den vielen Registern, die der Autor Mircea Cãrtãrescu zieht, finden sich hier auch sehr populäre Momente - der Kampf der Sünder gegen die Teufel hat eindeutige Züge von Splatterkino. Bei der Überquerung der zugefrorenen Donau taucht dann ein Leitmotiv der Orbitor-Trilogie auf, ein gigantischer Schmetterling, der aus dem Eis gehauen und zerteilt wird.
Schmetterlinge sind in diesen Büchern allgegenwärtig, sie stehen mit ihren fast substanzlosen, aber prachtvollen Flügeln wie eine Zentralmetapher für die Textarbeit des Autors.
Man könnte durchaus das ganze Projekt auch so auf den Punkt bringen: "Mircea wob Schmetterlingsflügel." Zugleich ist die Figur des Schmetterlings aber auch eine des Organischen. Cãrtãrescu findet sie in einem Querschnitt durch das Rückenmark, und ist damit bei jenem mikroskopischen Blick, der es ihm erlaubt, ständig erzählerische Türen zu öffnen, hinter denen sich endlose Räume, sagenhafte Visionen, zeitlose Himmelsreisen öffnen. So findet er schon in Die Wissenden mit einem amerikanischen Soldaten aus Bukarest nach New Orleans, und von dort zu einem esoterischen Kult, von dem bisher erst in Umrissen auszunehmen ist, was es mit ihm auf sich hat.
Am Ende ist es aber die konkrete stadtgeschichtliche Umgebung der Stefan-cel-Mare-Chaussee, die dem ganzen Orbitor-Projekt seine Grundlage gibt. Bei aller Fabulistik und Fantastik schreibt Cãrtãrescu eben doch Gegenwartsliteratur. Das heißt in seinem Fall, bei einem rumänischen Autor des Jahrgangs 1956: Er schreibt die Geschichte der jüngeren Gegenwart, er schreibt auf, was es mit dem Leben in der kommunistischen Diktatur auf sich hatte, wenn man zugleich über eine reiche Imagination verfügte.
Die relativ großen kulturellen Freiheiten, die unter Ceauºescu möglich waren (Bücher aus dem Westen waren nicht schwer zu bekommen), ließen in Gestalt von Mircea Cãrtãrescu einen Autor heranwachsen, der über die literarischen Mittel verfügt, diese Geschichte grandios auf das Niveau der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts zu bringen.
Er tut dies in einem Text, der uns noch einmal die ganze Hybris der Moderne vorführt: Cãrtãrescu schreibt nämlich nicht Literatur, sondern ein "Evangelium", das auch alles Negative in sich aufnimmt, auch die Negation des Nationalepischen und gängiger Wertordnungen. "Denn 'gut' war einst der König, der möglichst viele Menschen hinmetzelte." So kommt also Stefan der Große in Orbitor weg: nicht gut. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.10.2011)