Am 23. Oktober wird in Tunesien abermals Geschichte geschrieben. Die ersten freien Wahlen in einem arabischen Land finden statt.

Foto: Wandler/derStandard.at

Da sitze ich wieder in meinem Zimmer im dem kleinen Hotel auf der Prunkstraße von Tunis, der Avenue Habib Bourguiba. Schräg gegenüber liegt das Innenministerium. Vor genau neun Monaten – am 14. Januar – war es den ganzen Tag lang von Demonstranten umringt. Dann ein heftiger Polizeieinsatz und wenige Stunden später war der Spuck vorbei. Nach 23 Jahren an der Macht verließ Präsident Zine el-Abidine Ben Ali das Land fluchtartig. Der arabische Frühling hatte seinen ersten Sieg davon getragen.

Sieben Wochen habe ich seither auf verschiedenen Reisen im Land verbracht. Ich erlebte die Tage der Scharfschützen, die Chaos sähen wollten, ich erlebte die Zeit als die Tunesier völlig ohne Polizei auskamen, und das Land dennoch nicht im Chaos versank. Ich erlebte die spontane Hilfsaktion für die Flüchtlinge aus Libyen, die von der tunesischen Bevölkerung organisiert wurde, als der Staat so gut wie nicht funktionierte. Und ich erlebte auch die Zeiten, als bei Einbruch der Dunkelheit alle machten, dass sie so schnell wie möglich nach Hause kamen. Sie hatten Angst vor der Kriminalität. Es waren mehr Gerüchte, als Tatsachen. Doch in einer so große Stadt wie Tunis, ohne Polizei, da kommen leicht Ängste hoch.

Vor fünf Monaten war ich zum letzten Mal im Lande. Um so überraschter war ich jetzt bei meiner Ankunft. Die Touristen sind zurück und mit ihnen die Taxifahrer, die sie in der Ankunftshalle abfangen, um sie zu überhöhten Preisen ins Stadtzentrum zu fahren. Und auch diejenigen, die jedem Blondschopf auf der Avenue Habib Bourguiba anquatschen, ob er keinen Führung durch die Altstadt brauche, sind zurück.

Die Straßen sind völlig überfüllt, es wird gehupt und geschimpft. Dazwischen stehen mit einer Trillerpfeife etwas hilflos wirkende Polizisten. Auch sie sind zurück. Die Straßenkaffees sind voll. Alles sieht aus wie früher.

Und doch ist alles ganz anders. Anstatt wie unter Ben Ali wird heut nicht ausschließlich über Frauen und Fußball sondern auch viel über Politik diskutiert. Schließlich stehen am 23. Oktober Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung an. Tunesien wird damit als das erste arabische Land in die Geschichte eingehen, in dem freie Wahlen stattfinden.

Und selbst mein Smartphone berichtet mir von den neuen Zeiten Die Straßennamen wie Platz des 14. Januar – dem Tag der Revolution - oder Boulevard Mohamed Bouzizi – so benannt nach dem jungen Mann, der durch seine Selbstverbrennung vergangenen Dezember die Proteste auslöste – werden angezeigt.

Und zurück ist auch die Verwaltung und damit der Papierkram. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen ein Journalist, wie in den Wochen nach der Revolution, immer und überall arbeiten konnte und das ohne amtliche Akkreditierung. Für die Wahlen müssen wir uns einschreiben. Brav gab ich meine Unterlagen ab, nicht wie früher beim Innenministerium sondern bei einer eigenen Wahlbehörde.

Ich könne die Pressekarte dann zwei Tage vor dem Urnengang abholen, werde ich belehrt. Ich sei da aber gar nicht in Tunis sondern im Landesinnere, gebe ich zu bedenken. Dann könne ich eben die Wahllokale nicht betreten. "Doch ansonsten sind sie frei zu arbeiten, wie und wo sie wollen", lautete die Antwort. Ich bin gespannt auf das neue Tunesien. (Reiner Wandler/derStandard.at, 14.10.2011)