Der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann zögerte nicht, aus "innerster Überzeugung" das 19. Jahrhundert als das von Darwin zu bezeichnen. Und es gibt verdammt viele Gründe, das darauf folgende 20. Jahrhundert - wenn man bei den Lebenswissenschaften bleibt - das des Gens zu nennen. Doch auch diese Epoche geht vorbei, die Molekularbiologie befindet sich bereits in einer postgenomischen Ära: einer Übergangsphase zum Zeitalter des Proteins. Ob dieses Jahrhundert schließlich als das der "Proteomik" bezeichnet werden wird, bleibt freilich abzuwarten, die Eiweißforschung hätte aber ohne Zweifel das Zeug dazu.

Das Jahrhundert der Genomik wurde 1900 eingeleitet, im Jahr der "Wiederentdeckung" der Mendelschen Gesetze durch die Botaniker Hugo de Vries in Amsterdam, Carl Correns in Tübingen und Erich Tschermak in Wien. Die Epoche fand schließlich ihre Apotheose im Sommer 2000 mit der überstürzten Verkündigung des Abschlusses des Human Genome Project in Washington - vor wenigen Wochen wurden die damals präsentierten Daten in geputzter und ergänzter Form noch einmal präsentiert: Die vollständige Entschlüsselung des menschliches Erbgutes, des Genoms, ist abgeschlossen.

Ursprünglich auf ungefähr 140.000 geschätzt, wurde die Anzahl der menschlichen Gene nach der ersten Sequenzierung der DNA auf 30.000 gesenkt. Heute glaubt man, dass es wahrscheinlich doch mehr sind. Vielleicht so um die 45.000 Gene. In relativ kurzer Zeit wird man es wissen. Was man nicht wissen wird: was diese Gene tun. Und schon befindet man sich in der nächsten Epoche, der postgenetischen. Denn zum Verständnis des menschlichen Organismus, des Lebens schlechthin, ist das Wissen um die Anzahl der Gene und ihre exakte Lokalisation auf der Erbsubstanz bei weitem zu wenig. Jetzt muss erforscht werden, wofür diese Gene codieren: Für die Produktion welcher und wie vieler Proteine sind sie verantwortlich? Und schließlich: Was tun diese Proteine?

An der internationalen Suche nach entsprechenden Antworten beteiligt sich nun auch Österreich. Rund 40 Experten aus Innsbruck, Graz und Wien haben sich zur "Österreichischen Proteomik-Plattform" (APP) zusammengeschlossen. Ziel der aus fünf Arbeitsgruppen bestehenden Plattform sei es, neue Technologien zu entwickeln, um Krankheiten besser erforschen zu können, sagt Koordinator Lukas Huber von der Uni Innsbruck. Die neue Plattform soll die bereits laufende Genomforschung wesentlich unterstützen. Huber rechnet zudem mit einem "enormen wissenschaftlichen Aufschwung" in diesem Wissenschaftsbereich. Es sollen neue Arbeitsplätze, neue Erfindungen sowie Patente entstehen. APP wurde vom Wissenschaftsministerium ins Leben gerufen und soll, mit zwei Millionen Euro subventioniert, vorerst drei Jahre lang bestehen. "Unsere Arbeit wird von US-Topwissenschaftern kontrolliert. Daher stehen wir enorm unter Druck", sagt Huber.

Neben der DNA als zellulärem Informationsträger sind Eiweißmoleküle (Proteine) als zelluläre Werkzeuge maßgeblich an der Entstehung von Krankheiten beteiligt. Es ist daher eine der größten Herausforderungen der molekularen Biowissenschaften, neben dem Genom auch das Proteom aufzuklären, das die Gesamtheit aller Proteine (Genprodukte) einer Zelle und deren Funktionen darstellt.

Den Unterschied zwischen dem Genom und dem Proteom erklärt Huber so: "Die Raupe und der Schmetterling haben absolut idente Gene, aber unterschiedliche Proteine. Das Proteom ist die komplette Summe aller vom Genom übersetzten und vorhandenen Proteine unter bestimmten Bedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Proteom ist daher dynamisch und verändert sich andauernd." Proteine sind die ausführenden Organe einer Körperzelle. Sie bilden eine Art Skelett, organisieren den Stoffwechsel und erledigen die Kommunikation innerhalb einer Zelle und zwischen benachbarten Zellen im Organverband.

Proteine bestehen aus Aminosäuren, die ähnlich einer Perlenkette hintereinander aufgereiht sind. Welche Aminosäuren bei der Produktion von Proteinen in der Zelle wie aneinander gehängt werden - diese so genannte Primärstruktur -, wird durch die Gene bestimmt. Erst die ganz bestimmte Faltung der Aminosäurenkette und das zusätzliche Anhängen von kleinen Molekülgruppen verleihen dem Protein allerdings die Fähigkeit, eine spezifische Funktion zu erfüllen. In jeder Zelle wird immer nur ein Teil aller vorhandenen Gene auch tatsächlich in Proteine "übersetzt". Für diese jeweilige Proteinausstattung hat sich der Begriff "Proteom" durchgesetzt: Dieser bezeichnet die Gesamtheit aller Proteine einer Zelle, eines Organs oder einer Gewebsflüssigkeit. Während die DNA und damit das Genom in den allermeisten Körperzellen gleich ist und stabil bleibt, verändert sich das Proteom ständig. Die Proteinausstattung einer Hautzelle zum Beispiel sieht ganz anders aus als die einer Nervenzelle (obwohl eben beide das gleiche Erbgut haben), und auch innerhalb einer Hautzelle verändert sich die Proteinzusammensetzung je nach äußeren Reizen.

Die Methoden der Proteomik befinden sich zurzeit weltweit in intensivster Entwicklung. Neue und verbesserte Techniken zur Proteintrennung, zur Proteinsequenzierung sowie zur Datenanalyse werden dringend benötigt, um einen vertieften Einblick in das molekulare Geschehen einer Zelle auf Proteinebene zu erhalten. Die ersten Ziele der neuen Plattform: Aufbau einer "State-of-the-Art"-Proteomik-Infrastruktur, technologische Weiterentwicklungen mit Hinblick auf funktionelle Proteomik, das heißt Ermittlung der zellulären Aufgaben von Proteinen, Ausarbeitung neuer Protokolle und neuer stationärer Phasen für die Protein- und Peptid-Trennung, bioinformatische Weiterentwicklungen der Datenauswertung und Ausbildung von hoch qualifizierten Wissenschaftern. Schließlich liegt in der Entschlüsselung des menschlichen Proteoms eine große Hoffnung der Medizin: Eine Reihe von Schlüsselproteinen, die Krankheiten bedingen, könnten gezielte Therapien ermöglichen.

Beispiel: Das renommierte Fachblatt Nature berichtete unlängst, dass Forscher ein Protein entdeckt haben, das bei der häufigsten Form von Leukämie bei Kindern, der akuten lymphatischen (ALL), eine Rolle spielt. In bis zu 50 Prozent dieser Blutkrebsfälle fehle das so genannte Adapterprotein SLP-65. Zunächst sei die Auffälligkeit an Mäusen entdeckt worden. Untersuchungen an jungen Leukämiepatienten hätten dann gezeigt, dass dieses Protein auch Tumore beim Menschen verhindere. Die Forscher hoffen, in Zukunft die außerordentlich belastende Chemotherapie bei derartigen Krankheiten durch andere Behandlungsmethoden ersetzen zu können. Warum dieses Protein vielen Patienten fehlt, ist noch nicht geklärt. Die Wissenschafter vermuten, dass Viren (welche?) die Produktion dieses Proteins verhindern. (fei/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31. 5. 2003)