Tim Parks
Doppelleben
Aus dem Englischen von Michael Schulte
€ 25,60/440 Seiten. Kunstmann, München 2003

Foto: Buchcover
Es könnte alles so perfekt sein. Richter Daniel Savage, dessen Ehe nach einem aufgeflogenen Seitensprung in der Krise steckte, hat sich mit seiner Frau Hilary versöhnt. Man ist dabei, endlich ein eigenes Haus zu erwerben. Dan schwört sich, dass jetzt Schluss sei mit all den Abwegen.

Ein idyllisches Leben mit Frau, Kindern und Hund, das ist der sichere Hafen, den sich der notorische Schürzenjäger ausmalt. Beruflich ist auch alles in Butter; zwar ist Daniel nicht zuletzt deshalb ins Richteramt berufen worden, weil er ein Farbiger ist und sich das in der Öffentlichkeit immer gut macht, wenn die weiße Justiz wenigstens ein paar Quoten-Exoten aufweist. Aber niemand bezweifelt, dass Savage ein ausgezeichneter Vertreter seines (britischen) Berufsstandes ist. Doch da meldet sich eine Stimme aus der Vergangenheit. Eine Minnie bittet um Hilfe. Mit diesem koreanischen Mädchen hatte Dan vor Jahren einmal ein flüchtiges Abenteuer, verbotenerweise, denn Minnie hatte er während eines Prozesses, bei dem sie Geschworene war, angebaggert.

Minnie scheint von ihrer wie Pech und Schwefel zusammenhaltenden Sippe drangsaliert zu werden. Was genau los ist, versteht Dan nicht. Aber aus einem vagen Pflichtgefühl heraus versucht er, Kontakt zu dem Mädchen aufzunehmen. Das nimmt ihm die Familie krumm. Dan wird übel zusammengeschlagen und liegt einige Tage im Koma. Die Öffentlichkeit macht ihn zum Helden. Allgemein wird angenommen, dass der Überfall rassistisch motiviert war. Dan allein weiß die Wahrheit, aber wie soll er der Familie und den Medien beichten, was tatsächlich passiert ist?

Tim Parks verzwickter, raffiniert angelegter Plot entwickelt sich zu einem geschliffenen Gesellschaftsroman. Ironisch und tragisch zugleich zeigt der Autor, was passiert, wenn die Fassaden bröckeln. Es bricht ja nicht nur die Welt des Schwerenöters zusammen, auch Dans Freund, sein moralisches Vorbild, ist nicht das, was er zu sein vorgibt. Während der Freund in eine unheilbare Depression versinkt und an einer nicht diagnostizierbaren Krankheit stirbt, macht dessen Frau Dan unzweideutige Avancen. Beim Sichten des Nachlasses erwartet Dan der nächste Schock; der Freund entpuppt sich als Monster.

Eigentlich ist es ein dreifaches Leben, das Parks in mehrere Schichten aufdröselt. Da ist einmal die öffentliche Funktion des Richters, für "Gerechtigkeit" zu sorgen. Ein höchst fragiles Unterfangen, wie Parks anhand der Fälle, die Dan zu entscheiden hat, demonstriert. Die zweite Ebene ist das offizielle Familienleben, das bei einer Person des öffentlichen Interesses den allgemeinen Klischees zu entsprechen hat. Und die dritte Ebene repräsentiert das geheime Leben des Richters, die Affären, die Lügen, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Amts.

Was passiert, als Dan beschließt, Tabula rasa zu machen? Das bleibt bis zuletzt spannend, zumal Parks noch Überraschungen parat hat, die auch für einen Horrorfilm gut genug wären. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 31.5./1.6.2003)