Wilhelm Genazino
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.
€ 16,40/160 Seiten. Hanser, München und Wien 2003

Foto: Buchcover
Mit siebzehn, da hat man noch Träume", verkündete seinerzeit ein Schlager. "Mit siebzehn", so lässt Wilhelm Genazino seinen Icherzähler einsetzen, "trudelte ich ohne besondere Absicht in ein Doppelleben hinein". Anfang der Sechzigerjahre ist der junge Mann vom Gymnasium geflogen; seine Mutter will ihm irgendeine Arbeit verschaffen, er aber träumt wenig schlagergerecht vor allem vom Schreiben. Nach gescheiterten Bewerbungsgesprächen in diversen Branchen kann er in einer Spedition beginnen. Der andere Anfang ist die einzige kurze Passage, die explizit im Rückblick erzählt, zudem auf das Vergehen sowie auf die Unsicherheit des Gedächtnisses verweisend: "In dieser Zeit gelang es mir, zur Lokalredaktion des nun schon lange nicht mehr existierenden Tagesanzeigers einen Kontakt herzustellen. Ich drücke das so vage aus, weil ich die Art meiner Annäherung nicht mehr erinnere." Tagsüber ist nun Weigand, der ohne Vornamen bleibt, als kaufmännischer Lehrling tätig, abends als Reporter. Die Eintrittsattribute ins Erwachsenendasein, die sich dieses junge Ich zwischen dem Brot der frühen Jahre und dem "Wirtschaftswunder" vorstellt, stehen im Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.

Die "saubere" Beziehung zur blassen Freundin Gudrun scheitert an der kalkulierten Lebens-Liebes-Gleichgültigkeit, das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft ist ein Bankkonto, das aufgelöst wird. "Danach sahen wir uns nicht wieder", zieht das 4. Kapitel lakonisch diesen Schlussstrich. Den ihren zieht die geheimnisvolle Journalistin Linda, die Weigand in die Frühsechziger-Boheme einer deutschen Stadt einführt, selbst und erhängt sich: Das 6. Kapitel schildert ihr Begräbnis in einem Dorf an der Nordsee. Und so hat der Schreiberlehrling nach acht Kapiteln zwar sein Doppelleben beendet, jedoch nur eines seiner Titelziele erreicht. Nur weil sich ein junges Ich bemüht, "erwachsen" zu werden, lässt sich der schmale Band von Wilhelm Genazino noch nicht mit Fug als "klassischer Entwicklungsroman" bezeichnen, wie dies der Klappentext vormacht. Es sind vielmehr - knapp und gut arrangiert - Episoden und Bilder einer Epoche geschildert, für die die Sicherheiten und Verwirrungen eines jungen Mannes, seine Bemühungen und Beobachtungen bezeichnend sein mögen. Die nüchterne Erzählweise mit ironischen Einsprengseln und dem bisweilen administrativ angespielten Tonfall hat schon zum Erfolg von Genazinos Abschaffel-Trilogie in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre beigetragen; damals hat der "sanfte Ironiker" Fluchten aus der Angestelltenwelt dargestellt.

In Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman nehmen die Beschreibungen der beiden beruflichen Tätigkeiten viel Raum ein, das Verladen von Speditionsware und die Reportagemühen von lokalen Denkwürdigkeiten wie von jenem Je-Ka-Mi-Wettbewerb ("Jeder kann mitmachen"), der die ganze Gesellschaft auf eine ironische Bühne bringt: lauter Dilettanten und Imitatoren, die Schlager nachsingen, von Rex Gildo bis Freddy Quinn. Den anderen, freilich im Grunde ähnlichen Pol im Diskurs-Doppelleben bilden Weigands "Großvorträge", in denen er an Gudruns Ohr vorbei Äußerlichkeiten als Literatur-Geschichten referiert. Diese kleinbürgerlichen Privatreportagen wollen erklären, warum Thomas Mann das Abitur nicht geschafft hat oder warum Joseph Roth Alkoholiker war, und kommen mehrmals auf Kafka zurück, als könne die Sechzigerjahre-Welt kafkaesk gedeutet werden. Die künstlerische Aufbruchsstimmung der Zeit lassen die Gespräche mit Linda, die ihrerseits auf Joseph Conrad setzt, erstehen: über den Roman, den es zu schreiben gelte, über die "Unübersichtlichkeit des Lebens" und die "Übersichtlichkeit" der Literatur. Diese vermag der Journalistin jedoch letztlich nicht zu helfen. Weigand hingegen kann sich bei heiklen Situationen an Wörter und Details in einem "Draußen" halten.

In wenigen, unaufdringlichen Strichen gelingt es Genazino, eine Wahrnehmungs- und Benennungssucht sowie die schwierige Arbeit des Schreibens, das literarische Abwägen plausibel zu gestalten. Er schafft das, was sein Icherzähler noch nicht zustande gebracht hat: "Die Einzelheiten gefielen mir, je länger ich sie betrachtete (. . .), aber es war mir vorerst nicht möglich, den wundersamen Frieden, der von ihrem Nebeneinander ausging, in ein paar beiläufigen Sätzen einzufangen." Die Detailaufnahmen sind meist treffend, etwa wenn sich die Musik aus einem Vorkriegsradio anhört, "als würde das Orchester zwischendurch immer wieder von einem Schneesturm überrascht". Freilich liest sich in manchen Passagen auch Genazinos Prosa, als liege sie unter der Patina von seinerzeit. Sie reibt sich dann zu wenig am Klischee, mit dem sie umgeht (z.B. der Betriebsausflug, die Reportage über den Eiffelturm aus Streichhölzern). Hier gerät diese Literatur zu vorhersehbar und übersichtlich. (DER STANDARD, Printausgabe vom 31.5./1.6.2003)