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Sibylle Lewitscharoff

Foto: Archiv

Philosophie wird Erzählung, Erzählung wird Philosophie. Am Anfang liegt eines Nachts ein leibhaftig scheinender Löwe auf dem Bucharateppich im Arbeitszimmer des Philosophen Blumenberg; das unerhörte Ereignis treibt Geschichten, am Ende steht ein neues Höhlengleichnis.

Sibylle Lewitscharoff hat in ihren bisherigen Werken die Grenzen der gewöhnlichen Realität ungewöhnlich geöffnet. Diese Poeta docta mit der vergnüglich leichten, der furiosen, der espritvoll gebildeten Feder hat in Consummatus einen schwäbischen Lehrer aus dem Totenreich zurückkehren und in Apostoloff zwei Schwestern im Konvoi toter bulgarischer Heimkehrer eine andere Welt besichtigen lassen.

In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Vom Guten, Wahren und Schönen sprach sie sich kürzlich gegen die "Selbstfindungsapostel" der Gegenwartsliteratur, gegen deren kurze Sätze und dauernde Präsensform aus; von der heutigen Sprachkunst forderte sie auch kleine Epiphanien und Wunder: Möge eine heftige Phantasie vom Boden der Wirklichkeit abheben.

Mit ihrem neuen Roman bietet Lewitscharoff nun die Probe aufs Exempel, und was für eine! In Frankfurt verwies sie nicht nur auf Kafka und Beckett, sondern auch auf Murakamis Erzählung Frosch rettet Tokyo, in der dem Helden in seiner Wohnung ein Riesenfrosch gegenüber sitzt.

In Blumenberg sucht ein leicht zerzauster, ehrwürdiger Löwe ("Habhaft, fellhaft, gelb") den Denker heim, dessen Vorname ungenannt bleibt (während seine Studenten bevornamt auftreten) - es ist beileibe keine Heimsuchung.

Absolutismus der Wirklichkeit

Der faktische Hans Blumenberg gibt der Fiktion eine gute Basis: Der "Absolutismus der Wirklichkeit" widerstrebte dem berühmten Philosophen, er sammelte tatsächlich Bilder und Geschichten über Löwen, die aus dem Nachlass unter diesem Titel publiziert wurden. Bei Lewitscharoff erhält der Löwe kunstvoll Gestalt. In aller Ruhe und Mächtigkeit liegt er vor Blumenberg. In der Vorlesung, 1982 in Münster, kommt er den Mittelgang herabgetrottet, es ist kein Studentenulk, wie der Professor kurz reflektiert, nein, nur er - und dann kurz eine alte Nonne - sieht den Löwen und richtet sich geistig mit ihm ein.

Aus dem Hörsaal von Bewunderern greift der Roman vier Schicksale heraus, mit denen die Löwen-Kapitel sowohl untermauert als auch konfrontiert werden. Die seltsame Träumerin Isa aus Heilbronn (wie Kleists Träumerin), die Bruce Springsteen hört und engelhaft erscheint, sei ein "lebendiger Gegensatz der Welt", heißt es. Sie stürzt sich in den Tod, aus verzweifelter Liebe zu Blumenberg, aber auch aus vage bleibenden Motiven. Ihr Freund Gerhard, dem später als einem der wenigen Schüler eine akademische Karriere, allerdings jäh letal abgebrochen, beschieden ist, zeigt kaum äußere Reaktionen auf den grässlichen Suizid. Isas Eltern vermag er ihn nicht zu erklären.

Tod als Rätsel

Die Beschreibung seiner Gefühle in deren Wohnzimmer kann exemplarisch für Lewitscharoffs meisterhafte Darstellung stehen, die wie Blumenberg starke Metaphern gebraucht und mit feiner Ironie vorgeht. "Er fühlte sich ausgeglüht, als hätte man mit einem Flammenwerfer auf seinen Schädel gezielt. Jetzt hockte er da mit einem Haufen Asche im Hirn."

Und dann: "Bilder von Knochenmatsch und blutigen weißen Kleidfetzen trudelten vor seinem inneren Auge umher. Ein Meteor schlug durch die Decke und landete rauchend auf dem Teppich." Isas Wohngemeinschaft schildert er den Eltern als eine Welt aus Pappe, "und während er einen Pappendeckelgedanken an den anderen reihte, wurde es sechs Uhr und Zeit zu gehen."

Das innere und das äußere Leben, der Tod als Rätsel. Auch die beiden anderen Studenten gehen einem unguten Ende zu. Der eine wird in Brasilien ermordet, der andere verkommt und stirbt mit dem Wort "Lämmer! ", das er im Berliner Bahnhof Zoo in die Menge schreit.

Von all dem bleibt Blumenberg bis zum letzten Kapitel unberührt. Er ist mit seinem "sublimen Geistesgehäus" beschäftigt, mit der Vergänglichkeit konfrontiert - das stellt er fest, als er einen alten Freund besucht, und dies wiederum bringt ihm eine gemeinsame Ägyptenreise in Erinnerung. Der Löwe wird ihm "unentbehrlich", das Ungewöhnliche zur Gewohnheit. Dem "Phänomen Löwe" kommt er allerdings keinen Deut näher: "Oberflächlich betrachtet", relativiert der Erzähler, der sich einige Male direkt meldet und so dem Geschehen eine weitere Ebene der Reflexion, nämlich über das eigene Tun, hinzufügt.

Löwengeschichten

Was weiß ein Erzähler, wo endet seine Zuständigkeit? Man werde einwenden, erklärt er im letzten Teil des Romans, er hätte besser daran getan, all diese Tode nicht "in einem verschlungenen Netz anspielungsreicher Bezüge zu bergen". Ein Erzähler habe jedoch "die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen". Die Durchlässigkeit der in üblicher Lebensrealität strikt getrennten Sphären vorstellbar zu machen, wer könnte das besser als die Literatur? Sibylle Lewitscharoff schafft dies einmal mehr.

In ihrer vielschichtigen Anlage bringt sie verschiedene Geschichten sowie historische und theologische, literarische und auch rock-pop-kulturelle Anspielungen in einen gewitzt intelligenten und köstlich lesbaren Zusammenhang, verbunden zu ungemein dichten Szenen und Überlegungen (großartig, wie der Philosoph seine Vorlesung über die Trostbedürftigkeit des Menschen hält und zugleich mit spitzen Fingern sechs leere Cola-Flaschen vom Pult wegträgt). Dabei stützt sie sich auf ein feines Motivgeflecht, das wiederum auf mehrere Dimensionen verweist.

So bringt Blumenberg dem Löwen eine erfundene Löwengeschichte zu Gehör; so ist das starke Finger-Motiv mit dem Erzählen verknüpft. Von Isas Fingern geleitet - sie "führte mit ihnen zarte Dirigierspiele auf" - erzählt Gerhard von der Sprechstunde beim Professor.

Und Blumenberg weiß, dass er seinen Löwen nicht berühren dürfe. Bis er im letzten Satz die Pratze heftig zu spüren bekommt: "und riß ihn in eine andere Welt." (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 8./9. Oktober 2011)