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Über Aufstände wie diesen in St. Petersburg, Florida, kann man aus unterschiedlichsten Perspektiven berichten. Philip Meyer und Kollegen recherchierten systematisch und konnten absolute Verelendung und Nichtassimilierung als Ursachen ausschließen. Wissenschaftlich zu arbeiten ist für Meyer ein Weg aus der Krise des Journalismus.

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Prophezeite eine Antwort auf die Tea Party: Phil Meyer.

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Die Digitalisierung. Der Ausverkauf von Printmedien. Mobile Kommunikation. Die Fragmentierung der Öffentlichkeit. Die politische Polarisierung. Twitter. Die Überflutung mit Daten: Entwicklungen und Ereignisse finden irgendwie statt, scheinbar chaotisch und unverbunden. "Sie sind wie Punkte, die man erst miteinander verbinden kann, wenn man zurückschaut."

Mit diesem Steve Jobs entlehnten Vergleich versuchte Phil Meyer ein wenig Ordnung in die gegenwärtige Informationswelt zu bringen. Meyer begann in den Vierzigerjahren als Journalist in Kansas, wurde politischer Korrespondent unter anderem in Washington, unterrichtete ab 1981 Journalismus an der University of North Carolina und verallgemeinerte seine Erfahrungen in Büchern wie The Vanishing Newspaper - Saving Journalism in the Information Age. Er kann also auf vieles zurückschauen.

Anlass dazu bot ihm am Montag in Wien das Forum einer Hedy Lamarr Lecture. Als Kernthema hatte er den - nur scheinbaren? - Gegensatz zwischen einem präzisen, an Fakten orientierten und einem narrativen ("New") Journalismus angekündigt. Eine, diesmal der modernen Physik entlehnte, "vereinheitlichte Feldtheorie" möge daraus erwachsen, doch Meyer machte bald klar, dass wir so weit noch nicht sind.

Wir produzieren immer mehr Rohdaten, doch die müssen strukturiert werden, damit aus ihnen brauchbare Geschichten werden. Er selbst habe, berichtete Meyer, die wissenschaftlich akribische Form der Reportage mitbegründet, als er mit Kollegen, damals bei der Detroit Free Press, verschiedene Hypothesen testete, welche Faktoren zu den Rassenunruhen von 1967 in der Autostadt geführt hatten. (Sie konnten die Vermutung bestätigen, dass es vor allem um relative Deprivation ging.)

Der literarischen Reportage sprach Meyer insofern eine Berechtigung zu, als sie imstande sei, eine höhere Wahrheit zu vermitteln. Nur dürfe dies nicht auf Kosten der Fakten gehen. Das sei etwa Jimmy Breslin, einem "new journalist" der ersten Stunde, passiert, als er ein abgebranntes Rekrutierungsgebäude auf einem Campus zum Symbol studentischen Widerstands stilisierte. Sein Pech: Es war ein ganz anderes Gebäude. Ganz zu schweigen von einer gut geschriebenen, aber völlig erfundenen Sozial-"Reportage", die noch dazu einen Pulitzer-Preis gewann. (Berechtigt war hingegen der Pulitzer, den Meyers Team für die Detroiter Analyse erhielt.)

Seltene Straßenfeger

Diverse Formen der Berichterstattung aber müssen im Rahmen der ökonomischen Entwicklung der Medienindustrie gesehen werden und im Zusammenhang mit der Digitalisierung aller Kommunikationsmittel. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es eine Bewegung weg von Massenmedien, die für alle gleichermaßen und daher für niemanden im Besonderen da sind, hin zu immer speziellerer, "persönlicher" Versorgung mit Information, Unterhaltung, Werbung und deren Kombinationen. Die Kanäle sind immer zahlreicher geworden, die gemeinsamen Erfahrungen - wie seinerzeit die "Straßenfeger", die die Mehrheit der Bevölkerung vor Radio oder Fernsehen versammelt haben - immer seltener.

Die binäre, digitale Informationsübertragung hat diesen Prozess nicht nur beschleunigt, sondern um neue Qualitäten ergänzt. Wie es Jeff Jarvis von der City University New York ausgedrückt hat: Der Nutzer steht heute viel mehr in einem Prozess, in einem nicht endenden Nachrichtenstrom (der in beide Richtungen verläuft) als vor einem Produkt.

Darunter litten vor allem die traditionellen Medien, sagte Meyer. In der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Telekom Austria Group in Zusammenarbeit mit dem Medienhaus veranstalteten Lecture konfrontierte der US-Veteran seine Zuhörer - unter ihnen viele Journalisten - mit einem Dilemma, in dem die amerikanischen Medienunternehmen schon länger stecken und das er auf Europa zukommen sieht. Die Medien heute, sagte er, seinen Kollegen Clay Shirky von der NYU zitierend, seien "sozial, global, allgegenwärtig und billig".

Was ergibt sich aus dieser Konstellation für die Produzenten und für die Nutzer?

Zum einen eine Form der Radikalisierung, die Meyer mit Besorgnis sieht. Basierend auf sozialwissenschaftlicher Forschung und auf eigenen Beobachtungen meinte er, dass die zersplitterten Medien für immer unversöhnlichere Gegner zumindest mitverantwortlich seien. Das "risky shift syndrome", nämlich dass insular sich informierende Untergruppen der Gesellschaft immer extremer werden, haben zur Bildung der Tea Party und zu seiner Vorhersage geführt, dass bald eine Gegenbewegung unter den Linken entstehen würde. "Take back Wall Street!" in New York in den letzten Tagen habe ihn bestätigt.

Zum anderen ergebe sich eine Chance. Die Kooperation arabischer Tweeter und Youtube-Dokumentaristen mit britischen Qualitätsblättern, die Kontrolle von "Crowdsourcing" durch Reportageprofis hätten Wege aus dem Dilemma gezeigt. Trotz aller Skepsis hielt Meyer, in diesem Sinne echter Amerikaner, an einer optimistischen Vision fest: "Möge die Wahrheit sich durchsetzen!" Die Punkte, die dahin führen sollen, wird man erst in Zukunft verbinden können.(DER STANDARD, Printausgabe, 05.10.2011)