"Wenn ich als Zeitzeuge in Schulen von dieser Zeit erzähle, sind die jungen Leute baff."

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STANDARD: Sie sind 1916 geboren und einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, die den Ständestaat erlebt und darunter gelitten haben. SPÖ und ÖVP haben nun einen Gesetzesentwurf zur Rehabilitierung der Opfer des Austrofaschismus vorgelegt. Was halten Sie davon?

Propst: Ich habe über einen Freund erfahren, dass direkt im Gesetzesentwurf das Wort Austrofaschismus explizit vermieden wird. Auch dass da Unrecht geschehen ist, kommt so nicht vor. Das empört mich.

STANDARD: Wie wichtig ist Ihnen mehr als 70 Jahre danach eine Rehabilitierung?

Propst: Ich dachte lange, dass alle Opfer des Faschismus nach 1945 rehabilitiert worden sind. Ich habe seit 1946 für meine Emigrationszeiten und für meine Verwundung eine Entschädigung bekommen. Ich dachte, das sei die Wiedergutmachung.

STANDARD:  Sie wurden mehrmals verhaftet. Was hat die Dollfuß-Zeit für Sie und Ihre Familie bedeutet?

Propst: Meine Mutter war natürlich furchtbar aufgeregt. Sie hat ja nichts von Politik verstanden. Sie war der Meinung, es habe in der Familie noch nie einen Verbrecher gegeben, der eingesperrt gehört. Einmal ist sie zur Polizei gegangen und hat gesagt, dass ihr Sohn kein Verbrecher ist. Er kümmere sich doch nur um die Kinder bei den Roten Falken. Das war im Mai 1934. Ich war damals 18 Jahre alt. Die Polizisten haben gesagt: "Ach so, der arbeitet bei den Roten Falken?" Dann bin ich wegen Wiederbetätigung für die Sozialistische Partei verurteilt worden. Ohne jeden Beweis.

STANDARD:  Und die Familie?

Propst: Die Familie hat wirtschaftlich leiden müssen. Ich war ja eingesperrt, ich konnte nicht arbeiten und die Familie unterstützen. Unter den Nazis wurde die Situation noch schlimmer. Die haben meinem Bruder gesagt: Wenn ich mich nicht melde, dann holen sie ihn. Daraufhin ist auch er geflüchtet. Ich bin schon vorher, am Tag, als Hitler in Wien am Heldenplatz aufmarschiert ist, nach Tschechien geflohen. Das war ein günstiger Zeitpunkt, die Leute auf den Straßen waren alle besoffen, die Züge waren voll, die Leute waren auch am Saufen, es gab keine Kontrollen.

STANDARD: Besoffen vor Freude?

Propst: Ja natürlich. Die Leute im Zug haben randaliert, durcheinandergesungen und zum Raufen begonnen. So ist es damals zugegangen.

STANDARD:  Nationalratspräsidentin Barbara Prammer meint, dass sie Kritik am Entwurf verstehen würde, aber es solle nicht noch mehr Zeit vergehen. Sehen Sie das auch so?

Propst: Nein. Wenn in diesem Gesetz der Austrofaschismus nicht beim Namen genannt wird, weiß ich nicht, wofür die Wiedergutmachung steht. Dann ist es eine Wiedergutmachung zur Befriedigung der sozialdemokratischen Partei. Aber ich kann da nicht befriedigt sein. Es ist auf keinen Fall in Ordnung, weil das in Wirklichkeit keine Rehabilitierung ist, das ist ein Herumeiern um die Wahrheit.

STANDARD:  Glauben Sie, dass noch etwas abgeändert wird?

Propst: Ich weiß nicht, warum sich die SPÖ in dieser Frage von der ÖVP dreinreden lässt. Die ÖVP kann doch nicht allein bestimmen. Wozu haben wir dann die Sozialdemokraten in der Regierung sitzen?

STANDARD:  Sie haben mehr erhofft?

Propst: Von der ÖVP habe ich nichts erwartet, weil es dort immer noch Leute gibt, die das Dollfuß-Regime verteidigen. Im ÖVP-Klub hängt ja auch noch immer ein Bild von Dollfuß. Von der SPÖ bin ich enttäuscht, weil ich von ihr eher erwartet habe, dass sie zumindest die Grundprinzipien einhält, nämlich dass sie Faschismus echt bekämpft und auch benennt. Faschismus ist Faschismus. Da gibt es keine Kompromisse.

STANDARD:  Von SPÖ und ÖVP ist nie jemand auf Sie zugekommen?

Propst: Noch nie. Jedes fünfte Jahr kommt der Bezirksvorsteher auf Besuch. Als Geschenk der Stadt Wien hatte er zum 90. Geburtstag 200 Euro, zum 95er 300 Euro mitgebracht. Bei diesen Besuchen haben wir diskutiert, und ich habe ihm vorgeworfen, dass es auf dem Hietzinger Friedhof ein ehrenhalber gewidmetes Grab der Gemeinde für Dollfuß gibt. Als ich davon erfahren habe, bin von den Socken gefallen. Die Februar-Kämpfer, die hingerichtet wurden, wie der Karl Münichreiter, sind bis heute nicht einmal rehabilitiert. Dessen Tochter lebt ja noch! Es wäre höchste Zeit, dass sie erfährt, dass ihr Vater zu Unrecht hingerichtet wurde.

STANDARD: Leben noch Freunde von Ihnen, die auch Dollfuß-Opfer waren?

Propst: Nein, die sind alle tot. Auch der Hugo Pepper ist leider gerade gestorben.

STANDARD:  Was heißt "Austrofaschismus" für Sie?

Propst: Das war der erste Faschismus in unserem Land. Eine undemokratische Herrschaft ohne Parlament und gegen das Volk. Mich hat man sechs Monate lang im Anhaltelager Wöllersdorf festgehalten. Es waren so viele Menschen eingesperrt, dass sie Notgefängnisse errichten mussten. Da wurden die Fenster von Amtsgebäuden vernagelt und vergittert.

STANDARD: Wissen die Österreicher überhaupt noch, wer Dollfuß war?

Propst: Sicher nicht. Wenn ich als Zeitzeuge in Schulen von dieser Zeit erzähle, sind die jungen Leute baff, dass wir schon vor Hitler Faschismus gehabt haben.

STANDARD:  Gehen Sie mit 95 Jahren noch in Schulen?

Propst: Ja. Die Schüler wollen genau wissen, was damals geschehen ist und wieso.

STANDARD: Die wissen vorher gar nichts ?

Propst: Nein. Auch ich höre immer wieder: "Lassen wir die Vergangenheit ruhen." Aber das geht nicht. Aus der Vergangenheit müssen wir lernen, um die Zukunft zu gestalten. (Peter Mayr, DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.9.11)