Schon vor dem Desaster in Fukushima 2011 gab es auch in Japan Atomunfälle. Der schlimmste dieser Unfälle mit radioaktiver Strahlung ereignete sich 1999 in einer Fabrik für Uranaufbereitung in Tokaimura, nordöstlich von Tokio. 

83 Tage. Der langsame Strahlentod des Atomarbeiters Hisashi Ouchi. NHK-TV, Redline Verlag, 186 Seiten, 14,99 Euro.

Foto: Redline Verlag

30. September 1999, Kernbrennstofferzeugungsanlage JCO in Tokaimura, nordöstlich von Tokio. Ein Sommertag. Drei Arbeiter sind damit beschäftigt, ein Urangemisch in einen Trichter zu kippen. Für Hisashi Ouchi ist es das erste Mal. Er hält den Trichter, durch den die Lösung geschüttet wird. Beim siebten Eimer, dem letzten, hören sie einen lauten Knall, begleitet von einem blauen Licht. Dieses so genannte Tscherenkow-Licht wird sichtbar, wenn die Kritikalität erreicht wird. Im Moment dieser Kernspaltungs-Kettenreaktion bohren sich Neutronenstrahlen, die mächtigste Form radioaktiver Energie, durch ihre Körper. Ouchi läuft in die Umkleidekabine, erbricht sich und verliert kurz das Bewusstsein.

Er war verstrahlt worden.

Die Firma hatte sich über jegliche Sicherheitsmaßnahmen hinweggesetzt, um Geld zu sparen. Die Angestellten waren unzulänglich ausgebildet und arbeiteten unter großem Zeitdruck, die Geräte ein Resultat unfassbarer Schlamperei. Umso schneller verläuft die Operation zur Eindämmung der Kritikalität: 19 Stunden und 40 Minuten später gibt es den "ungesicherten Reaktor" nicht mehr.

"83 Tage. Der langsame Strahlentod des Atomarbeiters Hisashi Ouchi" von Hiroshi Iwamoto ist kein Buch für empfindliche Nerven. Der Bericht, der jetzt erstmals auf deutsch erschien, ist gespickt mit medizinischen Details, Augenzeugenberichten und Erinnerungen des medizinischen Personals. Erschütternd, manchmal kaum auszuhalten. Denn die ionisierende Strahlung tötet brutal und sie tötet in Zeitlupe.

Hisashi Ouchi wird drei Tage nach dem Zwischenfall ins Krankenhaus der University of Tokyo überstellt. Er wirkt völlig normal. Er ist fröhlich. Die Krankenschwestern nennen ihn den "fröhlichen Herrn Ouchi". Seine Hand ist nur leicht angeschwollen, die Rötung vergleichbar mit einem Sonnenbrand. Doch schon bald beginnen sich auf Hand und Vorderseite des Körpers Blasen zu bilden, an den Stellen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe der höchsten Strahlung ausgesetzt waren.

Haut löst sich ab, der Körper zerfällt

Ouchis Blut ist zerstört. Seine Lymphozyten sind - verschwunden. Die Zahl der weißen Blutkörperchen nimmt rapide ab. Die Widerstandskräfte seines Körpers sind nicht mehr vorhanden. "Kann es sein, dass ich an Leukämie erkranke?", fragt Ouchi, nicht ahnend, welche tödliche Kettenreaktion bereits in seinem Körper begonnen hat.

Alle Chromosomen sind zerstört. Chromosomen sind die Blaupause des Lebens, denn sie enthalten einen vollständigen Satz genetischer Information. Ouchis Chromosomen sind zerstückelt, deformiert oder kleben aneinander. Der Körper ist nicht mehr in der Lage, neue Zellen zu bilden. Eine Stammzellentransplantation wird später vorgenommen. Vergeblich. Nur einer von unzähligen Eingriffen.

Im Moment der Strahlung hat Ouchi seine Blaupause verloren.

Kazuhiko Maekawa ist der leitende Arzt. Schon früh rechnet er mit unvorstellbaren Veränderungen von Ouchis Körper durch das Fortschreiten der Verstrahlung. Der Familie, die ihrem Sohn, Ehemann und Vater, Tag und Nacht beisteht, erklärt er: "Es wird kein schöner Anblick werden."

Tag 7 nach der Verstrahlung: Die Untersuchungen werden qualvoller. Ouchi: "Ich kann nicht mehr, aufhören! Mutter! Ich bin doch kein Meerschweinchen!" Die Ärzte sind überfordert, niemand hat Erfahrung mit Strahlenopfern dieses Ausmaßes, Medikamente, die in Japan nicht zugelassen sind, werden aus dem Ausland herbeigeschafft.

Weitere äußere Symptome werden sichtbar. Wäscht man ihm die Füße und trocknet sie, wird Haut mitabgerieben. Beim Abnehmen von Pflastern löst sich ebenfalls die Haut ab und erneuert sich nicht mehr. Nässende, tiefe Wunden bleiben. Ouchi hat Schwierigkeiten zu atmen. Ein Schlauch wird in die Luftröhre eingeführt, man nimmt ihm dadurch auch die Stimme. Noch zeigt sich Arzt Maekawa zuversichtlich. "Wenn sich der Zustand seiner Lunge verbessert, können wir den Schlauch entfernen." Doch dieser Tag wird nicht kommen.

Ouchis schweigender Kampf beginnt.

Seine Epidermis löst sich nach und nach ab. Ein Großteil seines Körpers ist bald eine einzige offene Wunde. Ohne Haut fließt Ouchi förmlich aus, er verliert über Haut und Darm bis zu zehn Litern an Flüssigkeit pro Tag. Infusionen sollen diese wieder ersetzen. Er wird in Gaze gewickelt. Pilze nähren sich von dem feuchten Wundsekret. Die Schleimhäute beginnen zu bluten und lösen sich auf. Maekawas Zweifel wachsen. Er, sein Ärzteteam und auch die Krankenschwestern fragen sich, wie lange dieser Kampf auf medizinischer Ebene noch geführt werden soll und kann. Keiner spricht es aus.

"Ihr habt einen Roboter aus ihm gemacht"

"Lass uns das Jahr 2000 gemeinsam begrüßen", sagt Ouchis Vater. Sonst kann die Familie nur warten. Sie faltet Papierkraniche. Am Ende werden es über 10.000 sein.

Eine der Krankenschwestern fragt sich immer wieder: "Was ist diese Person hier? Nicht wer, sondern was ist diese Person. Sein Körper ist hier. Und es ist kein schöner Körper, er zerfällt in Einzelteile. Er hat nur noch diese Maschinen, an die er angeschlossen ist (...)." Und seine Familie: "Ihr habt einen Roboter aus ihm gemacht."

Am 59. Tag setzt Ouchis Herz aus. Drei Mal. Insgesamt steht es 49 Minuten still. Die Wiederbelebung gelingt, doch niemand kann sagen, ob das Gehirn geschädigt wurde. Ouchi zeigt keine Reaktionen mehr. Ein Organ nach dem anderen versagt, die Ärzte diagnostizieren zusätzlich eine bakterielle Infektion. Behandlungen schlagen nicht mehr an. Die Ärzte fassen einen Entschluss: Keine Wiederbelebungsmaßnahmen beim nächsten Herzstillstand.

Am 21. Dezember 1999, um 23.21 Uhr stirbt Hisashi Ouchi. 83 Tage sind seit dem Unglück verstrichen. Alle Schleimhäute im Körper sind verschwunden. Abgesehen von den Schleimhautschichten im Darm und in Bereichen des Magen-Darm-Trakts ist  auch die Schleimhaut der Luftröhre nicht mehr vorhanden. Es gibt nur ein einziges Organ mit leuchtend roten Muskelzellen, das intakt geblieben war.

Es ist das Herz.

Hisashi Ouchi wurde 35 Jahre alt. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 26.9.2011)