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"Die humanitäre Hilfe wird nicht nur weiterbestehen, sondern ausgeweitet werden müssen" : Somalische Frauen und Kinder stehen um Nahrung an.

Foto: AP/Farsameh

Von Georg Lennkh und Christian Manahl.

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Die Dürre und chaotische politische Verhältnisse haben über 400.000 vorwiegend aus Somalia stammenden Flüchtlinge nach Dahaab in Nordostkenia getrieben, das vom UNHCR betriebenen größten Flüchtlingslager der Welt. Die Dürrekatastrophe hat Somalia besonders hart betroffen. Laut Hilfsorganisationen sind 750.000 Menschen vom Hungertod bedroht, die meisten im südlichen, von den sogenannten Al-Shabaab-Milizen beherrschten Gebiet, die ausländischen Hilfsorganisationen den Zugang verwehren. In Somalia hat das Ausbleiben des Regens von der Armut zur Katastrophe geführt. Eine massive internationale Hilfsoperation ist angelaufen, auch Österreich ist dabei. Gleichzeitig wird der Vorwurf erhoben, die Geber hätten keine langfristige Ernährungssicherheit am Horn von Afrika aufgebaut.

Wie lassen sich solche Widersprüche erklären, solche Dilemmata auflösen? Die jüngere Geschichte Somalias führt von der Unabhängigkeit zur Militärdiktatur Siad Barre und zum Zerfall des Landes 1991. Schon damals leisteten die UN Nahrungsmittelhilfe, 1993 kam es zum Desaster von Mogadischu, einer gescheiterten US-Militäraktion gegen lokale Milizen und dem Trauma der durch Mogadischu geschleiften Leichen amerikanischer Soldaten. Seither hat kein US-Soldat an Militäroperationen in Afrika teilgenommen. Äußerst komplexe Klanverhältnisse, Allianzen und Regionalstrukturen bestimmen die somalische Politik. Somaliland im Nordwesten hat sich schon lange für unabhängig erklärt, Puntland im Nordosten will autonom bleiben.

Das Friedensabkommen von Mbaghati (bei Nairobi) 2004 ist bereits das 14. - und scheiterte bisher de facto am Widerstand islamischer Gruppen. Das gesamte Horn von Afrika ist ein einziges Krisensystem überlappender Konflikte. Soldaten, Milizen, Armeen, Geheimdienste und Waffen zirkulieren zwischen diesen Konfliktherden, Staaten finanzieren Rebellengruppen, um Einfluss auf andere auszuüben. Das Piratenunwesen bedroht die lebenswichtigen Öl- und Transportrouten zwischen Europa und Asien. Das führte zu einer gewaltigen Marineschutzoperation (in der Europäer, Russen, Amerikaner und erstmals auch die chinesische Marine zusammenarbeiten), deren Kosten bei weitem die Hilfsgelder für Somalia übersteigen. Die Lösegelder aber, die von Reedern bezahlt werden, kommen nicht kleinen Fischerdörfern zugute, sondern auch den Al-Shabaab-Milizen.

Auf diesem Chaos setzen die Auswirkungen des Klimawandels auf. Zunehmende Trockenheit und stärkere Regenextreme treten quer durch Afrika, von Somalia bis Mauretanien auf. Trockenheit ist nicht neu, ein Gegensteuern aber wäre nur mit einem Bündel von Maßnahmen wie Vorratsbildung, Wasserreservoirs, verbesserte Anbaumethoden etc. möglich. Das geht in Kenia oder Äthiopien recht und schlecht, in einem Nichtstaat wie Somalia ist es kaum denkbar.

So bleibt nur Nahrungsmittelhilfe von außen, die aber auf politische Hindernisse stößt, wenn al-Shabaab westlichen NGOs den Zugang zur Bevölkerung mit der zynischen Erklärung verwehrt, die Hungerkatastrophe sei eine Erfindung der UN. Nun aber ist mit dem Abzug der Al-Shabaab-Milizen aus Mogadischu eine völlig neue Situation entstanden, und Somalia hat die beste Chance, in zwei Jahrzehnten einen dauerhaften Frieden wiederherzustellen. Diese Hoffnung kann sich nur verwirklichen, wenn die somalische Übergangsregierung, ihre lokalen Verbündeten, die Friedensmission der Afrikanischen Union und die internationale Gemeinschaft gemeinsam handeln und das Vakuum füllen, das die islamischen Extremisten zurücklassen.

Vor wenigen Jahren noch wurden die jungen Kämpfer von al-Shabaab ("die Jugend" ) als Helden gefeiert. Damals, als äthiopische Truppen mit US-Hilfe in Südsomalia einmarschierten und 2007 die Herrschaft islamischer Gerichtshöfe beendeten, flüchteten die gemäßigten islamischen Führer ins Ausland. Al-Shabaab blieb und leistete blutigen Widerstand gegen die äthiopische Besatzungsmacht. Dies brachte der Gruppe enormen Respekt, der aber vor allem nationalistisch, nicht ideologisch-islamistisch motiviert war.

Nach dem Abzug der äthiopischen Truppen hat al-Shabaab dann sein wahres Gesicht gezeigt: das einer hart-extremistischen Gruppe, die Südsomalia in einen Talibanstaat verwandeln wollte, Musik, Tanz und Fußball ver-bot, Frauen zu gesichtsverhüllen-der Kleidung zwang, Verstöße ge-gen Vorschriften mit Auspeitschen, Arm-Amputationen und Steinigungen ahndete. Jugendliche wurden zwangsrekrutiert. Unmut machte sich bald breit, und eine lose Allianz von Sufi-Organisationen, Ahlu Sunna Wal Jama'a, organisierte bewaffneten Widerstand.

Al-Shabaabs Unfähigkeit, Rahmenbedingungen für internationale Hilfe zu schaffen, und die Zwangsrekrutierung zahlreicher Jugendlicher hat sie in eine tiefe innere Krise geführt. Damit hat sich die militärische Lage in Südsomalia qualitativ verändert. Heute ist ganz Mogadischu unter Regierungskontrolle, obwohl immer noch Bombenanschläge von Al-Shabaab-Infiltranten verübt werden. Ist daher das Ende des Krieges gegen al-Shabaab in Sicht? Möglicherweise. Al-Shabaab, dessen Führer mit Al-Kaida verbündet sind, wird sich wohl in eine regionale Terrorstruktur verwandeln, als Rebellenarmee aber könnte al-Shabaab bald zu einem Ende kommen.

Damit könnte nun erstmals die bisher mehr virtuell bestehende Übergangsregierung rasch Verhandlungen mit allen Kräften und Gruppen eröffnen, die gegen al-Shabaab auftreten. Von der internationalen Gemeinschaft braucht die Übergangsregierung massive Unterstützung bei der Erfüllung der Aufgaben, die in der sogenannten Mbagathi Charta vorgeschrieben sind - Aufbau von Sicherheitskräften, Justiz, Verwaltung, Ankurbelung der Wirtschaft, eine neue Verfassung.

Somalia ist ein - wenn auch extremes - Beispiel für die Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit, denn hier wird eben vom Westen in erster Linie eine politische Begleitung eines Staatswerdungsprozesses erwartet. Allerdings müssen wir uns nach fünfzig Jahren EZA wohl auch fragen, was aus der "Entwicklung" in Afrika geworden ist. Der Kontinent mit der höchsten Entwicklungshilfe ist kaum vorangekommen. Während Afrika noch 1970, zehn Jahre nach der Dekolonisierung, ein um zwei Drittel höheres Pro-Kopf-Einkommen als sowohl Süd- und Ostasien aufwies, ist diese Relation heute umgekehrt. Einige afrikanische Länder haben gute Fortschritte gemacht, und es wird bei diesen Debatten nie gefragt, was gewesen wäre, hätte es keine Hilfe gegeben. Dennoch: Eine Malaise ist unverkennbar. Vor kurzem hat Äthiopiens Premier Meles Zenawi erklärt, dass das westliche Dogma der Armutsbekämpfung ausgedient habe. China zeige aber Alternativen auf.

Ist es daher nur eine Frage der Zeit, wann Entwicklungszusammenarbeit in ihrer heutigen Form ein Ende findet? Hier ist nicht der Platz, ein solches Unternehmen in einigen Absätzen abzuhandeln, an dem über 50 Jahre hinweg Millionen Helfer, Konsulenten, Beamte beteiligt waren und in das viele hunderte Milliarden investiert worden sind. Auch Afrikaner leugnen nicht, dass es große Erfolge gegeben hat, etwa in der Bekämpfung von Krankheiten oder im Erziehungswesen. Nur: Gesellschaftsverändernd hat sie nicht gewirkt. Die Entwicklungshilfe selbst wird zunächst wohl einen anderen Namen finden müssen. Präsident Trumans "underdeveloped world" (1949) hatte mit einem Federstrich eine Zweiklassengesellschaft in der Welt geschaffen. "Entwicklung" transportiert seither immer auch ein oben und unten, und das vergiftet heute mehr denn je unsere Beziehungen zu den Ländern des Südens - mit denen wir einfach von "Zusammenarbeit" sprechen sollten.

Jede, auch jede afrikanische Ursachenanalyse für das unbefriedigende Wachstum in Afrika kommt heute zu ähnlichen Ergebnissen. Es fehle an "Governance" , an Rechtsstaatlichkeit, Eliten arbeiteten zumeist für den eigenen Machterhalt und die eigene Tasche, Korruption sei endemisch. Aber Afrika brauche auch Investitionen in Energie, Infrastruktur, Forschung, Landwirtschaft, Erziehung, Gesundheit. Die gemeinsame EU-Afrika Strategie stellt ebenfalls Friede, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Vordergrund. Ohne sie gibt es kein nachhaltiges Wachstum, keine Entwicklung. Somalia ist ein Paradebeispiel dafür. Diese Zusammenarbeit wird nicht weniger als die bisherige Entwicklungshilfe kosten. Und Österreich kann es sich nicht leisten, sich nicht zu beteiligen. Die jüngste Kürzung unserer Mittel in diesem Bereich, trotz bindender Zusagen, ist international nur noch peinlich.

1961 erklärte Bruno Kreisky im Parlament, "dass Österreich sehr wohl wirtschaftlich in der Lage ist, sich an dieser Entwicklungshilfe zu beteiligen und eine beachtliche Leistung zu erbringen. Eine andere Frage ist, ob wir politisch die Kraft besitzen, einen Teil unseres Nationaleinkommens für diese Zwecke zu reservieren." Und weiter: "Die jährlichen Reparationszahlungen an die Sowjetunion in der Höhe von 40 Mio. Dollar, etwa eine Milliarde Schilling, könnten wir genauso gut auch weiter an den Süden zahlen." (Damals waren das fast 0,6 Prozent des BIPs!) Wir selbst werden die Arbeit der österreichischen EZA auf den Prüfstand setzen müssen. Wir haben Erfolge gehabt und Flops produziert, machten aber den Fehler, auch noch so eindeutige Misserfolge möglichst zu verstecken - und damit jeden Lernprozess zu ersticken. Wir sollten verstehen, was wo warum schief- oder gut lief. Ein von der Voest gebautes Zellstoffwerk in Kamerun ging nie in Betrieb und hat uns 300 Millionen Euro gekostet. Ein Glasfasertelefonprojekt in Kap Verde, das so gar nicht den EZA-Prinzipien entsprach - zur Finanzierung mussten viele kleine Basisprojekte aufgegeben werden - und das von der Weltbank verteufelt wurde, legte die Basis für eine moderne Informationstechnologie, Voraussetzung für den Einstieg Kap Verdes in eine globalisierte Weltwirtschaft.

Europa schaut heute fasziniert auf die rasant wachsende Präsenz Chinas in Afrika, die uns von vielen Afrikanern immer noch als leuchtendes Beispiel entgegengehalten wird, während einige bereits ein riesiges trojanisches Pferd zu erkennen glauben, dem bereits tausende Chinesen entsteigen, um Afrikanern Arbeitsplätze zu nehmen. Zusammenarbeit heißt immer, dass beide Seiten etwas tun müssen, und das wird unsere Chance in Afrika sein. Aber wir müssen auch den Mut haben, Afrika zu sagen, dass es selbst wissen muss, was es will.

Die humanitäre Hilfe hingegen wird nicht nur weiterbestehen, sondern ausgeweitet werden müssen, weil die Bevölkerungszahl in Afrika steigt, die Menschen aber immer weniger mit klimabedingten oder politischen Katastrophen fertigwerden können. NGOs müssen gestärkt werden. Aber: Die unabdingbaren NGOs sollten, getrieben von der Notwendigkeit der Mittelaufbringung, Afrika nicht schwärzer, d. h. ärmer malen, als es ist, sie sollten am George-Clooney-/Angelina-Jolie-Syndrom vorbeisteuern, und sie sollten schließlich Krisen auch einmal aufhören lassen (Stichwort Tsunami-Hilfe in Südasien).

In der Mitte der Neunzigerjahre wurde Somalia als hoffnungsloser Konfliktherd betrachtet. Diese Nichtbeachtung wurde später bitter bezahlt, weil Somalia zur Terroristenbasis wurde, von der aus die Terroranschläge auf die US Botschaften in Nairobi und Daressalam, auf Hotels an der Küste von Kenia und Lokale in Kampala geplant wurden. Ein ganzes Land der Gewalt von Kriminellen und Extremisten zu überlassen führt zu regionaler und internationaler Unsicherheit. Somalia ist ein besonders komplexer, schwer verständlicher Konfliktherd. Jedoch haben somalische und internationale Vermittlungsbemühungen viel erreicht. Jetzt muss es der Übergangsregierung und ihren Partnern gelingen, das beim Rückzug von al-Shabaab entstehende Machtvakuum zu füllen, damit es nicht erneut von lokalen Milizen und Warlords gefüllt wird. Gelingt uns das, wird auch die überlebensnotwendige humanitäre Hilfe eine Hungerkatastrophe in Somalia eher verhindern können. (DER STANDARD, Album, 24.9.2011)