Bild nicht mehr verfügbar.

Der Chef der wallonischen Sozialisten Elio Di Rupo steht kruz vor einem erfogreichen Abschluss der Koalitionsverhandlungen.

Foto: Reuters/ Thierry Roge
Foto: DER STANDARD

Das Wahlergebnis der Parlamentswahlen vom 13. Juni 2010. Bis jetzt konnten sich die Parteien noch nicht auf eine Koalition einigen.

Foto: DER STANDARD

Belgien - Nach 15 Monaten Provisorium zeichnet sich eine Einigung im Streit um die Regierungsbildung ab. Der mit Koalitionsverhandlungen beauftragte Elio Di Rupo von den wallonischen  Sozialisten spricht davon, eine „erste entscheidende Etappe" in den Gesprächen bewältigt zu haben. Belgien könnte somit nach eineinhalb Jahren endlich wieder eine gewählte Regierung bekommen. 

Am 26. April 2010 ist Ministerpräsident Yves Leterme offiziell zurückgetreten, Neuwahlen wurden ausgerufen. Seitdem führt der flämische Christdemokrat (CD&V) eine provisorische Regierung. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im April 2011 sprach Leterme noch davon „immer fünf bis sechs Wochen im Voraus" zu planen, da nicht absehbar war, wie lange sich die Verhandlungen zwischen den Parteien noch hinziehen würden. Bei den Wahlen 2010 noch abgestraft, genießt der längst dienende Interimspremier der Welt mittlerweile wieder recht hohe Beliebtheitswerte. Große Reformen sind in einer solchen unsicheren Situation jedoch schwer umzusetzen, räumte Leterme im April 2011 noch ein. 

Koalitionsverhandlungen dauern mittlerweile 15 Monate

Am 13. Juni 2010 fanden die letzten Parlamentswahlen in Belgien statt. Als Wahlsieger gingen die flämischen Separatisten der Nieuw-Vlaamse Alliantie (NVA) mit 27 von insgesamt 150 Mandaten hervor, eine Mittepartei, die in den Jahren davor eine Kartellgemeinschaft mit den flämischen Christdemokraten (CD&V) gebildet hatte.Knapp dahinter erreichten die wallonischen Sozialisten (PS) 26 Mandate.

Für eine Mehrheit im Parlament wärenen jedoch 76 Mandate notwendig, weshalb sich die beiden Wahlsieger mit mindestens zwei weiteren Parteien auf eine Koalition einigen müssten. Ein schwieriges Unterfangen, trennen die Parteien doch nicht nur unterschiedlichste Ausrichtungen, sondern auch die beiden Landesteile Wallonien und Flandern.

Sprachenstreit nur Spitze des Eisbergs

Die Sprache ist das augenscheinlichste Merkmal das Belgien teilt. Im nördlich gelegenen Flandern wird Niederländisch gesprochen, im südlichen Wallonien Französisch. Hinter diesem Unterschied, der häufig als Hauptursache für die bereits seit Jahrzehnten andauernden Streitigkeiten in Belgien herangezogen wird, steckt jedoch wesentlich mehr. Flandern ist die wirtschaftlich produktivere Region. Seit Jahrhunderten ist die Textilindustrie ein fixer Bestandteil der Wirtschaft im Norden Belgiens. Daneben haben sich in den vergangenen Jahrzehnten - aufgrund der geografisch günstigen Lage an der Nordsee - die chemische und die Mineralölindustrie, sowie die Automobil-, die Diamanten- und die Metallindustrie etabliert. Ein profitabler Dienstleistungssektor verstärkt die Wirtschaftsleistung Flanderns zusätzlich.

„Reiches" Flandern, „armes" Wallonien

Das südlich gelegene Wallonien hat spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit massiven wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Die Schwerindustrie, die Wallonien einst zu einem Vorreiter der Industrialisierung gemacht hatte, brach Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Bis heute konnten kaum nennenswerte Alternativen gefunden werden, um die einstige Wirtschaftskraft der Region wieder zu erlangen.

Aufgrund dieser krassen wirtschaftlichen Gegensätze fordern flämische Parteien immer wieder die Abspaltung des reichen Flanderns vom wirtschaftlich unterentwickelten Wallonien.

Der „Speckgürtel" um Brüssel wird immer größer

Brüssel bildet die dritte Region Belgiens. Hier gibt es - anders als in Flandern und Wallonien - zwei Amtssprachen, Niederländisch und Französisch, obwohl Brüssel geografisch von Flandern umgeben ist. Die Region Brüssel-Hauptstadt (so der offizielle Name) besteht aus insgesamt 19 Gemeinden. Im Großraum Brüssel  leben - nicht zuletzt aufgrund der Funktion Brüssels als „Hauptstadt der Europäischen Union", aber auch durch Zuwanderung aus Drittstaaten - viele AusländerInnen, die vorwiegend Französisch sprechen. Zudem ziehen immer mehr Wallonen in die Region um Brüssel, weshalb Kritiker von einem „Speckgürtel" oder „Ölfleck" sprechen, der sich immer weiter um die Hauptstadt in die umliegenden Gemeinden Flanderns auszubreiten scheint. Denn mit der frankofonen Bevölkerung kommen auch die Sprachprobleme nach Flandern, wo traditionell Niederländisch gesprochen wird.

In der Region Brüssel-Hauptstadt können sowohl flämische als auch wallonische Parteien gewählt werden. Dies führt nun unter Umständen dazu, dass in flämischen Kommunen ausschließlich Politiker wallonischer Parteien sitzen, wenn die Mehrheit der Gemeindebewohner französischsprachig ist. Die Flamen fordern daher eine Teilung der Gemeinden, die Wallonen lehnen dies ab. Deshalb greifen die flämischen Bürgermeister zu anderen Methoden. Sie knüpfen etwa die staatliche Wohnungsvergabe an die Bedingung, dass die neuen MieterInnen niederländisch sprechen - eine Diskrimminierung, die wiederum die Wallonen erzürnt.

Speckgürtel wächst - die Probleme auch

Der Speckgürtel um Brüssel wächst und gedeiht gemeinsam mit den Problemen, die mit ihm einhergehen. Eine grundlegende Staatsreform steht seit Jahren im Raum. Bis jetzt konnte die Politik diese jedoch noch nicht umsetzen. Immer wieder führen Streitigkeiten zwischen den beiden Sprachgruppen dazu, dass einzelne Parteien aus den Koalitionen austreten und somit Neuwahlen provozieren.

Allein die Tatsache, dass die zwölf Parteien in Belgien 15 Monate Zeit brauchten, um sich auf eine Koalition zu einigen zeigt, wie schwierig es ist, die vielen Einzelinteressen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Bleibt zu hoffen, dass die neue Regierung, so sie tatsächlich zusammenfinden sollte, stark genug sein wird, um große Reformen mit Blick fürs Ganze umzusetzen, ohne an Streitereien der Sprachgruppen zu zerbrechen. (elin, derStandard.at, 15. September 2011)