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Komplexes System Verkehr: Die rückkoppelnden Interaktionen der Teilnehmer können zum Stau führen. Komplexitätsforscher helfen, ihn zu verhindern.

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Die Quantität macht den Systemunterschied: Einige Nervenzellen bilden nur ein neuronales Netzwerk für einfache Probleme (Bild). Viele Milliarden Neuronen bilden hingegen ein komplexes Gehirn.

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Stefan Thurner, einziger Professor für Komplexitätsforschung in Wien.

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Über Komplexitätsforschung anlässlich ihrer europäischen Jahreskonferenz in Wien.

Die bis jetzt veröffentlichten Unterlagen zu FuturICT sind noch recht vage. Doch an Kühnheit und Ambition ist das Forschungsvorhaben kaum zu überbieten: Rund eine Milliarde Euro der EU sollen in den nächsten zehn Jahren in ein Megaprojekt fließen, das Hunderte von europäischen Forschern aus verschiedenen Disziplinen zusammenbringen würde, um die großen drängenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme der Welt des 21. Jahrhunderts zu analysieren und zu lösen.

Als eines der zentralen Bestandsstücke des Projekts ist die Errichtung einer sogenannten "Living Earth Platform" geplant: Das soll eine Art Weltsimulation im Supercomputer werden, die mittels riesiger Rechnerkapazitäten und Internet-Datamining globale Entwicklungen abbildet. Dazu kämen "Krisenobservatorien", um Entscheidungsträgern wissenschaftlich fundierte Gegenmaßnahmen anbieten zu können, wenn etwas in Finanzmärkten oder der Gesellschaft grob aus dem Ruder läuft.

Einer der beiden Hauptbetreiber von FuturICT (ICT steht für Informations- und Kommunikationstechnologien) ist der Komplexitätsforscher Dirk Helbing, der einer der Star-Vortragenden bei der diese Woche stattfindenden Europäischen Konferenz für komplexe Systeme (ECCS'11) in Wien ist. Der Wissenschafter von der ETH Zürich bezeichnet FuturICT – in Analogie zu den Cern-Teilchenbeschleunigern – als eine Art riesigen "Wissens-Beschleuniger", der seine Impulse dabei von der Wissenschaft komplexer Systeme erhalten würde.

Der studierte Mathematiker und Physiker befasst sich seit seiner Diplomarbeit mit der Modellierung sozialer Systeme. So analysierte er etwa das Verhalten von Fußgängermassen und entwickelte daraus städtebauliche Empfehlungen.

"Konvertierter Soziologe"

Seit 2007 lehrt und forscht er als "konvertierter Soziologie-Professor" in Zürich – und ist über die Fußgänger- und Verkehrsanalysen längst hinaus. Wie viele andere Komplexitätsforscher rekonstruiert er am Computer Meinungsbildungsprozessen ebenso wie Finanzmarktinstabilitäten und andere Risiken in komplexen Systemen.

Nach Wien geholt und organisiert wurde die Wiener Tagung, an der 700 Komplexitätsforscher teilnehmen, von Stefan Thurner. Ihr "Programmvorsitzender" ist der Mathematiker und Spieltheoretiker Karl Sigmund. Thurner kann auf eine ähnlich interdisziplinäre Karriere verweisen kann wie Helbing: Der einzige Professor für Komplexitätsforschung in Österreich studierte Physik und Wirtschaftswissenschaften; seine Arbeitsgruppe leitet er an der Med-Uni Wien. Zudem forscht er zusätzlich noch als externer Professor am US-amerikanischen Santa Fe Institute im erlauchten Kreis von einigen Nobelpreisträgern.

Diese 1984 gegründete Denkfabrik in New Mexico ist so etwas wie die Geburtsstätte der Komplexitätsforschung. Einer der Gründerväter war übrigens Physik-Nobelpreisträger Murray Gell-Mann, der aus Anlass der ECCS'11 ebenfalls in Wien ist. Am vergleichsweise kleinen Institut im Süden der USA sieht man das ursprüngliches Ziel inzwischen erreicht, da die Theorie komplexer Systeme inzwischen ein etablierter Forschungsgegenstand ist, dem sich weltweit eine Anzahl wissenschaftlicher Institute widmen.

Thurner blickt freilich mit etwas Neid auf andere Länder, wo die Institutionalisierung sehr viel weiter fortgeschritten ist: Allein an der ETH Zürich oder an der Uni Oxford gebe es jeweils mindestens ein halbes Dutzend Lehrstühle für Komplexitätsforschung.

Sein Fach beschreibt Thurner in aller Kürze als Wissenschaft von jenen Systemen, bei denen das Ganze mehr ist als die Summe der Teile, die wiederum stark und unvorhergesehen miteinander in Wechselwirkung treten. "Und das ist im Grunde all das, was wirklich interessant ist: zum Beispiel Verkehrssysteme, Finanzmärkte oder Meinungsbildungsprozesse."

Ein klassisches und eben kein komplexes Systeme wären das von einer Sonne und den Planeten, so Thurner: Kennt man deren Eigenschaften, kann man leicht auf das Gesamtsystem schließen. Der Verkehr hingegen ist ein komplexes System: "Die Verkehrsteilnehmer interagieren stark miteinander: Wenn einer bremst, bremst auch der andere und so weiter. Aufgrund der Rückkopplungen des Verhaltens kann das zu Staus führen."

Die Erforschung und Beherrschung von Verkehrssystemen zählt im übrigen zu einer der Erfolgsgeschichten der Komplexitätsforschung. Möglich wurde dies durch sogenannte agentenbasierte Modellen ("agent-based models"): einer Art Nachbau der Welt mit dem Computer, der das Forschungsfeld in den letzten Jahren revolutionierte.

Das Mühsamste an der Forschung sei, so Thurner, sinnvolle Agenten zu kreieren und die Art ihrer Verbindungen zueinander festzulegen, ihre Netzwerke. Im Finanzsystem wären das etwa die Banken oder die Investmentfirmen mit ihren jeweiligen spezifischen Interessen. Was nach spekulativer Theorie mittels Computer klingt, hat auch prominente Unterstützer: Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, hat erst unlängst die Erforschung der Finanzmärkte mit agentenbasierte Modellen empfohlen.

Und womöglich klappt es ja auch mit FuturICT, jener Großforschungsinitiative, bei der Thurner der österreichische Koordinator wäre: FuturICT ist immerhin eines von sechs Forschungsprojekten, das sich Hoffnungen machen kann, 2012 von der EU-Kommission als "Flagship Initiative" im Bereich "Future and Emerging Technologies" ausgewählt zu werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.09.2011)

=> Wissen: Die Wissenschaft komplexer Systeme

Wissen: Die Wissenschaft komplexer Systeme

Die Komplexitätsforschung sei noch "so neu und so weitreichend, dass noch niemand genau sagen kann, wie man sie definiert oder wo ihre Grenzen liegen." Mit diesen Worten eröffnete der US-Wissenschaftsautor M. Mitchell Waldrop vor ziemlich genau 20 Jahren seinen Besteller Complexity und brachte den damaligen den Stand der Disziplin auf den Punkt.

Zwei Jahrzehnte nach Waldrops Buch, das vor allem um das legendäre Santa Fe Institute in New Mexico kreist, ist die Komplexitätsforschung um vieles weiter: Sie hat sich institutionalisiert, es gibt Lehrstühle und eigene Konferenzen wie jene in Wien. Aber auch inhaltlich ist in der Wissenschaft von den komplexen Systemen dank der Revolution in den Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Fortschritten in der Netzwerkanalyse viel weitergegangen, wie Stefan Thurner erklärt. Dennoch gibt es nach wie vor keinen Konsens darüber, wo die Möglichkeiten und Grenzen dieser Art von Sozial- und Wirtschaftswissenschaften "in silico" (also im Computer) liegen.

Als einzige öffentliche Veranstaltung der ECCS'11 in Wien diskutieren deshalb drei führenden Fachvertreter – ETH-Professor Dirk Helbing, der Ex-Präsident des Santa-Fe-Instituts Geoffrey West und der italienische Komplexitätsforscher Luciano Pietronero – gemeinsam mit Helga Nowotny, der Präsidentin es Europäischen Forschungsrat (ERC), über die Lage der Komplexitätsforschung und ihrer Rolle für die Gesellschaft. (red)

Mittwoch, 14. 9., 20 Uhr, Hörsaal C1 am Campus der Uni Wien im alten AKH