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Jeder kann ein Wiener sein: Renée Schüttengruber und Thomas Blondelle.

Foto: APA/Dimo Dimov/Volksoper

Wien - "Das habe ich geschrieben?!", soll Johann Strauß gerufen haben, als man ihm zeigte, was da aus seinen Melodien geworden war. Als die Operette Wiener Blut dann im Oktober 1899 uraufgeführt wurde, lag der Walzerkönig bereits in seinem Ehrengrab am Zentralfriedhof. Karl Kraus überschüttete in der Fackel die Librettisten Viktor Léon und Leo Stein mit Spott, und auch das Wiener Publikum konnte sich mit dem Stück nicht gleich anfreunden.

Inzwischen gehört die musikalische "Leichenfledderei" von Adolf Müller freilich zu den festen Säulen des leichten Repertoires. Verständlich also, dass sie Direktor Robert Meyer seinem Haus in angemessener Form zeigen wollte. Wie man Operetten adäquat zeigt, darüber gehen die Meinungen freilich auseinander.

Bedient man die Klischees und Erwartungen der Mehrheit des Publikums, oder soll man sie - zumindest ein bisschen - brechen? An dieser Frage sind Regisseure schon dutzendfach gescheitert, wenn sie sich zu deutlich für das eine oder andere entschieden haben; und auch Thomas Enzinger hat sich mit der Problematik offensichtlich intensiv auseinandergesetzt. Entschieden hat er sich aber dafür, beides zu tun - und dadurch die Quadratur eines Teufelskreises geschafft, in dem sich andere rettungslos verheddern.

Seine Inszenierung, die am Freitag in der Volksoper Premiere hatte, setzt genau bei den Klischees an, zeigt schon während der Ouvertüre touristische Wien-Bilder, die allerdings ins Groteske verdreht sind: Marionettenhaft stehen Kaiserin Sisi und Kaiser Franz Joseph, der goldene Schani aus dem Stadtpark und ein Kitsch-Mozart auf der Bühne, während ein "Ausrufer" (Gernot Kranner) wie aus Wedekinds Lulu das Publikum zum Reigen einlädt.

Flott und stimmig

Dann freilich erzählt Enzinger die Handlung fast ganz unverändert, auch wenn er die Dialoge neu eingerichtet und mit Zitaten von Sigmund Freud, Johann Nestroy, Alfred Polgar, Werner Schneyder und Arthur Schnitzler gespickt hat. Bombensichere Gags und sicher, aber nicht sparsam dosiertes Outrieren gibt es für das Unterhaltungsbedürfnis. Dazu kommen etliche Querverweise für den weitergehend interessierten Bildungsbürger. Und etliche hinzugefügte, immer wieder auftauchende Figuren wurden so klug integriert, dass wohl kaum jemand daran Anstoß nehmen kann.

Darunter sind Strauß selbst ("Was, der lebt noch?"), ein zigarrerauchender Freud oder der Maler Hans Makart, dessen Gemälde auch auf den behutsam zwischen gutem Witz und fast so gutem Geschmack austarierten Kulissen prangen (Ausstattung: Toto).

Noch ausgewogener geht es nur im Graben zu: Alfred Eschwé animiert das hervorragend aufgestellte Orchester (ebenso wie den tadellosen Chor) zu kaum noch zu übertreffender Eleganz, lässt flott und jederzeit flexibel musizieren - nicht nur den Walzerrhythmus. Das kommt nicht nur dem Wiener Staatsballett zugute, das mit deutlichem modernem Einschlag tanzt (Choreographie: Bohdana Szivacz), sondern auch dem ebenfalls flott durchchoreografierten Geschehen auf der Bühne.

Es wäre nur begrenzt sinnvoll, bei einem Ensemble, das so ausgiebig spielen, tanzen und auch noch singen muss, ausschließlich einen vokalen Maßstab anzulegen. Sonst könnte man allzu leicht die in Summe stimmigen Leistungen von Sieglinde Feldhofer (Franzi), Renée Schüttengruber (Pepi) oder Boris Eder (Josef) auseinanderdividieren. Man könnte darüber vergessen, mit wie viel Stimmkultur Thomas Blondelle (Balduin) und vor allem Kristiane Kaiser (Gabriele) ihr großes Duett sangen, und würde sich womöglich nur an die grandiosen Komödianten Carlo Hartmann (als köstliche germanische Karikatur Fürst Ypsheim-Gindelbach) und Gerhard Ernst (als derb polternder Fiakerkutscher) erinnern.

Und man könnte vergessen, dass es an diesem Abend auch noch eine Botschaft gab. Hatte die Volksoper schon im Vorfeld der Produktion Stellung gegen einen widerlichen Wiener Wahlkampfslogan bezogen, so ging es in jenen scharfzüngigen Couplets, die Wolfgang Böck (Kagler) sang, auch um die Vielfalt der Kulturen (Text: Christoph Wagner-Trenkwitz). Wenn ein belgischer Tenor den Operettenton so gut treffen kann wie an diesem Abend, dann kann jeder ein Wiener werden. (Daniel Ender/DER STANDARD, Printausgabe, 12. 9. 2011)