Erntedankfest in Wien: Wieviel bleibt vom Wählerkuchen noch für die ÖVP übrig?

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Obmann Spindelegger (li.), Landwirtschaftsminister Berlakovich: Erntedankfest als bürgerlicher Identitätsstifter.

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Berlakovich, Wiener Interims-Parteichefin Gabriele Tamandl, Landwirtschaftskammerpräsident Gerhard Wlodkowski, Spindelegger (v.l.n.r.) am Heldenplatz: Den Wählern erklären, "warum die ÖVP überhaupt auf der Welt ist".

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ÖVP-Obmann Spindelegger: Politik ist das Bohren dicker Bretter (das ist allerdings ein Akkuschrauber).

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Bernhard Görg: "Jede bürgerliche Partei ist bereits in sich eine Koalition, weil sie große Interessengruppen in der Partei vereint."

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Angela Merkel präsentiert sich dem Wähler als pragmatische Problemlöserin. Das komme gut an, sagt ihr Biograf Gerd Langguth.

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Politologe Langguth: "Es gibt keine wirklich politisch-philosophische Debatte in der Bevölkerung um den besseren Weg."

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Traktor-Reifen und ebenso große Käselaibe sah man am Sonntag auf dem Wiener Heldenplatz. Die Speckbrote und der Schilcher gingen rasant über die Budel. 280.000 hungrige Besucher labten sich unter den weißen Zeltplanen beim Erntedankfest in Wien.

Ein Fest des Bauernbundes und damit der ÖVP. Landwirtschaftsminister Niki Berlakovich hält stolz eine Wassergurke in die Kameras, und Staatssekretär Sebastian Kurz hat sich zum Anlass ein Sakko mit Hirschknöpfen angezogen. Ein Schaulaufen, das bürgerliche Identität stiftet. Klar, dass ÖVP-Obmann Michael Spindelegger abwechselnd zum Weinglas und zum Akkuschrauber greift und ein Gesicht macht, als sei die Welt vollends in Ordnung.

In Wahrheit ist gar nichts in Ordnung in der Österreichischen Volkspartei. Nicht nur, weil Christine Marek eine Rede beim Erntedankfest hätte halten sollen, aber da schon zwei Tage nicht mehr Wiener ÖVP-Chefin ist und fernbeibt. Nicht nur, weil die nächste Nationalratswahl ohne Städte nicht gewonnen werden kann, wie Altobmann Erhard Busek erinnert. Die Stammwähler, die ÖVP-treuen Bauern und Beamten, schwinden auch am Land. Wer nicht zur Klientel gehört, fragt sich, "warum die ÖVP überhaupt auf der Welt ist", wie die Wiener Innenstadt-Bezirksvorsteherin Ursula Stenzel einmal sagte.

"Ein zutiefst sozialdemokratisches Land"

Vom Regierungspartner SPÖ vor sich hergetrieben ("80.000 Reichste besteuern") und von Affären gebeutelt (Strasser, Telekom) rufen sie in der ÖVP nach Profil und Programm. Soll Spindelegger einen wirtschaftsliberalen Kurs einschlagen? "Wäre ich ein Strategieberater, könnte ich davor nur warnen", sagt Bernhard Görg, ehemaliger ÖVP-Wien-Chef zu derStandard.at. "Eine konsequent wirtschaftsliberale Politik würde eine begeisterte Anhängerschaft von 15 Prozent hinter sich vereinigen", mahnt Görg. Warum das so ist? "Das hat mit der Struktur der Gesellschaft zu tun: Ich behaupte immer, Österreich ist ein zutiefst sozialdemokratisches Land", meint Görg. In vielen Bereichen sei die ÖVP daher wie "die SPÖ, nur minus 20 Prozent, das meine ich jetzt inhaltlich".

Ein Blick nach Deutschland gibt Görg recht. Am Leipziger CDU-Parteitag 2003 wurde Angela Merkel bejubelt für wirtschaftsliberale Parolen, den Wählern gefiel's weniger. "Wenn eine bürgerliche Partei, die auf die breite Zustimmung der Bevölkerung setzt, zu marktliberal auftritt und zu wenig das Soziale betont, wird diese Partei abgestraft", konstatiert Gerd Langguth, Bonner Politikwissenschaftler und ehemaliger CDU-Abgeordneter.

Bürgerliche Parteien verlassen sich aufs Regieren

Auch Görg glaubt nicht, dass ein schärfer umrissenes Programm aus dem Umfragetief hilft: "Jede bürgerliche Partei ist bereits in sich eine Koalition, weil sie große Interessengruppen in der Partei vereint." Glaubt man Görg, der nicht Kritiker der ÖVP sein will, sondern Großparteien generell in der Krise sieht, wäre Spindelegger gut beraten, gewisse Überzeugungen im Ungefähren zu lassen, wie es ihm die große Pragmatikerin Merkel in Deutschland vormacht. "Im Grunde ist die CDU eine höchst pragmatische Partei und ist es durch Merkel noch mehr geworden", sagt Merkel-Biograf Langguth.

Doch für bürgerliche Parteien, die sich zunehmend aufs Problemlösen statt auf Programme verlassen, ist der Grat zwischen Breite und Beliebigkeit dünn. Für Spindelegger, der die ÖVP in Umfragen auf Platz zwei bis drei und als kleinere Regierungspartei übernahm, geht es darum ans Eingemachte: Was ist christdemokratische, konservative Politik? Wozu das ganze?

Feindbild Kommunismus verloren gegangen

Einst gelang den Bürgerlichen die Antwort darauf viel leichter. Der Anspruch der "Volks"-Partei stimmte zuweilen tatsächlich mit der Wirklichkeit überein. Eine Partei für Fabriksherren, Beamte und kleine Leute. Nach englischem Vorbild, schreibt der Grazer Historiker Dieter A. Binder, "präsentierte sich die ÖVP im Wahlkampf 1945 als 'Österreichs Labour Party' auch auf Plakaten und gratulierte offiziell dem britischen Wahlsieger über die Konservativen". Erst ein paar Jahre später begann "die scharfe Grenzziehung gegenüber den österreichischen Sozialisten", untermauert "mit scharfen anitmarxistischen Argumenten", die Identität österreichischer Bürgerlicher zu prägen. Auch die CDU, sagt Langguth, stellte die Sozialdemokraten während des Kalten Krieges indirekt gerne als "vaterlandslose Gesellen" dar.

Doch die Zeiten sind unübersichtlich geworden und die Wähler untreu. Lange sind die Tage vorüber, da Konservative und Linke nicht nur um Wähler, sondern auch um Weltbilder rangen. "Die deutsche Gesellschaft ist, anders als früher, wenig polarisiert. Es gibt keine wirklich politisch-philosophische Debatte in der Bevölkerung um den besseren Weg", befindet Langguth. Das treffe genauso auf Österreich zu, sagt Görg: "Wir haben diese großen ideologischen Unterschiede zwischen SPÖ- und ÖVP-Wählern meiner Meinung nach absolut nicht."

Konservative sehen Stärke im Mut zum Unpopulären

Bisher blieb Spindelegger den programmatischen Kampfruf schuldig. Auf dem ÖVP-Parteitag im Mai hat er vor allem erklärt, was er nicht will (Gesamtschule, Vermögenssteuern). Die simple Publikumsfrage, wie viel Christdemokratie noch in der ÖVP stecke, beantwortete er im ORF-Sommergespräch lapidar damit, "dass man einem Menschen etwas zumutet und etwas aufträgt und er andere mitziehen muss". Dass der Begriff "Leistung", den man der SPÖ trotzig entgegenhält, noch nicht mit Leben gefüllt wurde, geben einige in der ÖVP aber selbst zu.

Weil der Innsbrucker Parteitag nur der Spindelegger-Wahl diente und ein neues Programm bis zur Wahl nicht vorgelegt wird, muss man in älteren Schriften nachschlagen. Die Volkspartei wolle die Mittelschicht beschützen und trotz sinkender Geburtenrate und schlechter Weltwirtschaftslage Jobs und Wohlstand erhalten, schreibt im "Österreichischen Jahrbuch für Politik 2008" etwa Christian Moser, Bereichsleiter für Öffentlichkeitsarbeit in der Politischen Akademie der ÖVP: "Mit der ökosozialen Marktwirtschaft vertraut die ÖVP dabei auf ein Ordnungsmodell, das im Wettbewerb mit den Sozialisten und Staatsfetischisten in allen anderen Parteien - deren Rufe nach mehr Staat, mehr Regulierung, mehr Abgaben stündlich lauter werden - am besten geeignet ist, mit den richtigen Maßnahmen der jetzigen Rezession einen Konjunkturaufschwung folgen zu lassen." Noch kürzer formulierte der Publizist Hans Winkler vor einiger Zeit in der "Presse": Konservative Politik kennzeichne "einmal ganz abgesehen von allen Inhalten, der Wille, das, was notwendig ist, möglich zu machen und es dann auch zu tun".

Bürgerliche Wählertreue im Schwinden

Bernhard Görg hält Lamentos über fehlende Ideen ohnehin für übertrieben. "Dieses eine große Thema, von dem in der ÖVP viele hoffen, es bringe den entscheidenden strategischen Vorteil, gibt es gar nicht." Es komme vielmehr darauf an, dass Spindelegger den Eindruck vermittelt, das Land besser durch die Krise zu führen als SPÖ-Chef und Kanzler Werner Faymann. Als Nummer zwei sei das schwer genug. Görg: "Es ist ein Faktum, dass wir programmatisch nicht besonders stark sind, aber ich werte das nicht als Schwäche."

Langguth will keine Ratschläge geben, "Österreicher sind sehr skeptisch, wenn Ratschläge aus Deutschland kommen". Dennoch empfiehlt er: "Es müssen Flügelpersönlichkeiten da sein: Wenn ich Parteiführer wäre, würde ich mir Leute suchen, die den sozialen wie den konservativen Flügel abdecken und sie immer schön ihre Themen beackern lassen." Das versucht die ÖVP aber ohnehin bereits - etwa wenn Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner vorschlägt, die Familienbeihilfe direkt an die Studenten auszuzahlen, oder wenn Finanzministerin Maria Fekter eine Schuldenbremse per Verfassung fordert. Themenhoheit statt Programmdebatte, scheint die Strategie zu sein. Dennoch rät Langguth: Bürgerliche Parteien müssen bei aller Pragmatik "noch so etwas wie einen Markenkern erkennen lassen".

Beim Erntedankfest ist der Kern der ÖVP gar nicht so schwer auszumachen. Es lässt sich vermuten, dass viele Gäste in Lederhose und Dirndl der Marke "Bürgerlich" noch die Treue halten. Sicher sein kann sich die ÖVP nicht mehr. Weder der Besuch der Sonntagsmesse noch ein Trachtenanzug mit grünem Stehkragen garantiert heute noch eine bürgerliche Wählerstimme. Zumal das Erntedankfest am Heldenplatz der ÖVP eines voraushatte: ein dichtes Programm. (Lukas Kapeller, derStandard.at, 13.9.2011)