Therapie allein ist bei chronischen Erkrankungen längst nicht die Lösung. 90 Prozent des Behandlungserfolgs hängen maßgeblich von den Patienten ab. Der Einzelne ist genauso gefordert wie das Gesundheitssystem generell.

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Alpbach - So heiß war es während der Gesundheitsgespräche in Alpbach noch nie. Und zwar im zweifachen Sinne. Zum einen brannte die Sonne vom Himmel und heizte das Tiroler Bergdorf auf exotische 29 Grad Celsius auf, zum anderen ging es bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen auch recht heiß her. "Gerechtigkeit - Verantwortung für die Zukunft" ist heuer das Generalthema, besonders die Gesundheitsgespräche, so hörte man im Vorfeld, sollten von ihrem "esoterischen Touch" befreit werden. Zu brisant seien die Probleme, um sich jedes Jahr wieder von hochkarätigen Experten nur berieseln zu lassen. Chronische Erkrankungen, Kindergesundheit, Pflege sind die großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Da war man sich einig. Die Teilnehmer waren aber erstmals aufgefordert, ihr Wissen in den sechs verschiedenen Arbeitskreisen aktiv einzubringen, Lösungsvorschläge zu formulieren, um sie am Montag den politischen Vertretern bei der Abschlussveranstaltung präsentieren zu können.

Am Freitagnachmittag gab es noch kurze, prägnante Einführungsvorträge. Sehr eindrücklich waren die plakativen Beispiele des deutschen Mediziners Fred Harms. Der Vizepräsident der European Health Foundation in Zürich zitierte historische Quellen. 1948 war Diabetes Typ II noch eine seltene Erkrankung. Unser Lebensstil - wenig Bewegung, schlechte Ernährung, niedrige Bildung - hat ihn zu einer der größten Herausforderungen in den Industriestaaten gemacht. In Österreich leben derzeit geschätzte 600.000 Diabetiker, Tendenz steigend. Die Kosten für das Gesundheitssystem sind vor allem bei unerkanntem Diabetes enorm, Amputation und Blindheit die Folgen. Harms bemühte ein paar weitere drastische Beispiele. "Die Fastfood-Industrie arbeitet heute genauso effektiv wie seinerzeit die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee gemeinsam." Das rüttelte auf, einige waren empört. Ein Jahr Diabetes-Behandlung koste dem amerikanischen Staat gleich viel wie ein Jahr Krieg im Irak und Afghanistan gemeinsam.

Doch Diabetes ist bei weitem nicht das einzige Problem. Ebenso düster sind die Prognosen für Demenzerkrankungen. Derzeit gibt es in Österreich 70.000 Alzheimer-Kranke, 2050 könnten es laut Vita-Studie des Ludwig-Boltzmann-Instituts 170.000 sein.

Einfache Rechnung

Die Menschen werden älter, Familien haben im Durchschnitt nur mehr 1,4 Kinder. Man muss kein Experte sein, um sich die Folgen der demografischen Entwicklungen vor Augen zu halten. Deshalb war Pflege auch ein zentrales Thema: 440.000 Menschen brauchen heute bereits ständige Pflege, 60 Prozent der über 80-Jährigen beziehen Pflegegeld. 2030 wird es um 73 Prozent mehr über 80-Jährige geben. Wer rechnet, sieht Handlungsbedarf vor allem auch in Hinblick auf die eigene Zukunft. Helmut Brand, Professor für European Public Health an der Universität in Maastricht, sprach vielen aus der Seele, als er "Health Literacy", also Wissen und Verantwortung jedes Einzelnen in Gesundheitsfragen, als Kernkompetenz formulierte. "Sie hat vor allem starke ökonomische Bedeutung", argumentierte er.

Erik Schokkaert, wissenschaftlicher Direktor an der Katholischen Universität im belgischen Leuven, machte deshalb auch klar: Erstens: Die westlichen Gesellschaften sind aufgefordert, offen über die Probleme zu diskutieren, die Politik darf nicht beruhigen, und gemeinsam müssen klare Ziele definiert werden. Schokkaert hegte keine Illusionen: Nur drastische Maßnahmen, also "hard choices", könnten die derzeitig hochkomplexen Systeme fit für die Zukunft machen. Und er diagnostizierte: "Die Entscheidungsträger konfrontieren sich nicht mit den Problemen, und das gelingt auch ganz gut, weil die Gesundheitssysteme überall so komplex sind, dass man Probleme unsichtbar machen kann." Ohne breite gesellschaftliche Diskussion, Transparenz, das Bekenntnis zu Solidarität und über alle politischen Ressorts übergreifende Maßnahmen ginge es also nicht. Nach Schoekkaerts Worten war allen in Alpbach wieder einmal klar: ein unendlich schwieriges Unterfangen.

Umso erstaunlicher, was am nächsten Tag in den Arbeitskreisen passierte. Unter professioneller Leitung der vom Veranstalter engagierten Agentur promitto ging es in den jeweiligen Bereichen ans Eingemachte. "Was soll man tun, was verändern, bitte konzentrieren Sie sich darauf", wurde immer wieder gemahnt. Im Workshop "Patientinnen zwischen Rechten, Pflichten und Eigenverantwortung" plädierten Monika Maier von der Arge Selbsthilfe Österreich für Patientenpartizipation bei gesundheitspolitischen Entscheidungen, Patientenanwalt Gerald Bachinger ortete Nachholbedarf bei Arzt-Patienten-Beziehungen. "Ein Patient muss zum Koproduzenten seiner Gesundheit werden."

In so gut wie allen Arbeitsgruppen prasselten erst einmal die Wünsche für Verbesserungen auf die Workshop-Leiter ein. Die Charts füllten sich mit Fachbegriffen, dazwischen wurde diskutiert. Klaus Vavrik, Präsident der Österreichischen Kinder- und Jugendgesundheit, meinte: "Nach der ersten Runde konnte ich mir nicht vorstellen, dass wir aus dieser Fülle drei Kernforderungen finden, doch es gelang." Man kam überein, dass ein unabhängiger Sachverständigenrat eine gute Lösung sei, um die bisher vernachlässigten Kinderrechte in unterschiedlichen Gremien zu repräsentieren.

Ganz generell war eine Tendenz eindeutig abzulesen: Nahezu alle Arbeitsgruppen drängen auf nationale Maßnahmenprogramme, weil sich die föderalistische Struktur bei sämtlichen Problemen immer als größtes Hindernis erweist. Sie macht einheitliche Informationen, Entscheidungen und Maßnahmen unmöglich. Ein Eindruck aus der Arbeitsgruppe Alzheimer. Karin Eger, Leiterin der Abteilung Gesundheitspolitik und Prävention der Wiener Gebietskrankenkassen: "Wir haben Case-Care-Modelle, aber die Länder wollen sich mit den Krankenkassen gar nicht einigen und investieren ihr Geld lieber in neue Spitäler." Deshalb wurde auch ein nationaler Aktionsplan Demenz als Kernziel definiert.

In vielen Arbeitskreisen überlappten sich die Themen, vor allem bei der Pflege. Aus- und Weiterbildungsprogramme auch für Angehörige sollten forciert werden, war auch das Ergebnis der Arbeitsgruppe Langzeitpflege. Ebenso zentral: Ein gemeinsames Budget für Gesundheitswesen und Langzeitpflege, die derzeitige Kompetenzteilung zwischen Gesundheits- und Sozialministerium sei für alle Beteiligten am System ein Hindernis und nicht mehr zeitgemäß, denn leidtragende seien alle, die sich in diesem Dschungel der Systeme zurechtfinden müssten. Schokkaerts Ausführungen über die Wichtigkeit von Transparenz und harten Maßnahmen scheinen hier am dringlichsten zu verwirklichen zu sein.

Mut zur Verantwortung

Um harte Maßnahmen geht es auch bei der Bewältigung von Diabetes. Als es im Workshop um konkrete Formulierungen ging, sprachen Experten aus Erfahrung. Der Gesundheitsminister unterstütze immer nur kleine Projekte, die wenig kosten. Mit dieser Strategie würde man aber nicht weit kommen. Nur große Disease-Management-Programme und die von Brand geforderte Health Literacy könnten die Situation verbessern. Warum? Zu 90 Prozent hängt der Behandlungserfolg von den Patienten ab. Das gelte bei allen chronischen Erkrankungen, so Public-Health-Experte Harms. Ärzte und Apotheker sollten Trainer werden und weniger um Privilegien rittern, kritisierte er.

Heute Montag werden die politischen Entscheidungsträger Stellung nehmen. Die Initiatoren, allen voran Robin Rumler, Präsident der Interessenvertretung der pharmazeutischen Industrie, sind gespannt. "Die Arbeitskreise haben gut funktioniert. Die Teilnehmer haben greifbare, konstruktive und zukunftsweisende Ziele formuliert." (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 22.08.2011)