Michael Musalek (geb. 1955) ist Institutsvorstand und ärztlicher Direktor des Anton-Proksch Instituts für Suchtkranke in Wien und Past Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.

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Ein Mann in einer Gummizelle - in diesem Fall ein Kunstprojekt.

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Insulinschocktherapie, chirurgische Eingriffe im Gehirn oder medikamentöse Ruhigstellung: Ob und welche Behandlungsmethoden in der Psychiatrie zum Einsatz kommen, darüber herrscht oft massives Unwissen. "Das Problem ist, dass es in der Bevölkerung noch immer so ein gewisses Image gibt á la 'Einer flog über das Kuckucksnest' gibt", sagt Michael Musalek, Leiter des Wiener Anton Proksch Instituts, der größten Suchtklinik Europas. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt der Mediziner, welche Behandlungen längst passé sind, wann eine zwangsweise Unterbringung legitim ist, was im geschlossenen Bereich passiert und wie die Elektroheilkrampf-Therapie wirklich wirkt.

derStandard.at: Glauben Sie, die Bevölkerung hat ein falsches Bild von der Psychiatrie?

Musalek: Eindeutig. Und das ist auch der Grund, warum wir jetzt eine Imageoffensive gestartet haben. Leider war das auch ein Versäumnis von uns selbst, da die Entwicklungen, die in den letzten 30 Jahren stattgefunden haben, nicht entsprechend transportiert wurden. In der Bevölkerung existiert noch immer ein gewisses Image á la "Einer flog über das Kuckucksnest"- aber man darf nicht vergessen, dieser Film ist aus den 70er Jahren. In dieser Zeit hat sich in diesem Fach extrem viel getan.

derStandard.at: Das heißt, die Zwangsjacke gibt es nicht mehr?

Musalek: Genau. So etwas habe ich vor ungefähr 25 Jahren das letzte Mal gesehen. Aber ich bin auch vor einigen Jahren gefragt worden, ob es eine Teufelsaustreibung gibt und habe verneint. Dann habe ich gehört, dass unser Erzbischof ein Befürworter des Exorzismus ist. Aber dort wo medizinische Standards eingehalten werden, gibt es so etwas nicht.

derStandard.at: Wie sieht es mit den Krankheitsbildern aus. Haben sich diese in den Psychiatrie verändert?

Musalek: Die Absolutzahl an Depressionen, an bipolaren Störungen und Angststörungen nimmt zu. Das ist aber wahrscheinlich nicht auf eine wirkliche Zunahme in der Bevölkerung zurückzuführen, sondern auf einen offeneren Umgang mit diesen Krankheiten, auf das Vorhandensein einer höheren Sensibilität heutzutage. Daraus ergibt sich diese Zuwachsrate. Die Zahl der schizophrenen Patienten bleibt dagegen ziemlich konstant.

derStandard.at: Wie lange ist die durchschnittliche Aufenthaltsdauer eines psychiatrischen Patienten im stationären Bereich?

Musalek: Im Anton Proksch Institut werden Suchtkranke rund sechs bis acht Wochen betreut. Aber in den Psychiatrien sind die durchschnittlichen Aufenthaltsdauern wesentlich kürzer. Das sind oft mehr politische Entscheidungen denn medizinische. In den letzten Jahren war die Verkürzung des Aufenthalts ein zentrales Thema. Das war auch sinnvoll, denn bis in die 1950er/60er Jahre hat es eine so genannte 'Verwahrungspsychiatrie' gegeben, wo Patienten über sehr lange Zeit in psychiatrischen Anstalten verwahrt worden sind. Mittlerweile ist man ganz zu einer Behandlungspsychiatrie gekommen. Wir sehen uns heute in unserer Aufgabenstellung nicht als 'Verwahrende'.

Durch die Psychiatrie-Reform vor 30 Jahren wurde der niedergelassene Bereich sehr stark ausgebaut, Betten abgebaut und gleichzeitig auch die Aufenthaltsdauer verkürzt. Allerdings beginnt jetzt das Pendel ins Gegenteil auszuschlagen. Die Aufenthalte sind jetzt so kurz, dass Patienten einfach nicht stabil genug sind, um sie ambulant entsprechend weiterbehandeln zu können. Eine rasche Wiederaufnahme folgt. Diesem Drehtür-Effekt muss jetzt entgegengewirkt werden.

derStandard.at: Wie lange werden Patienten im geschlossenen Bereich untergebracht?

Musalek: Die Aufenthaltsdauer im geschlossenen Bereich, den Patienten nicht verlassen dürfen, ist meistens nur kurz. Oft sind es nur Tage, manchmal einige Wochen. Das ist aber nicht nur die Entscheidung des behandelnden Arztes, sondern muss von außen - durch Gerichte, Patientenanwälte und Gutachter - kontrolliert werden, damit es keine Unregelmäßigkeiten geben kann. Im geschlossenen Bereich kann das akuteste überwunden werden, um eine Basis für die eigentliche Behandlung zu legen. Denn eine zielführende Behandlung ist längerfristig in diesem Fachbereich immer nur mit dem Patienten gemeinsam möglich.

derStandard.at: Wann ist eine Unterbringung (früher Zwangsweinweisung) legitim?

Musalek: Es gibt nur zwei Institutionen, die jemanden gegen ihren Willen anhalten dürfen: das ist die Polizei und das ist die Psychiatrie unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Dafür muss der Patient psychisch krank sein, eine Selbst- oder Fremdgefährdung, die unmittelbar damit in Zusammenhang steht, vorliegen und es darf keine andere Möglichkeit geben, ihn zu behandeln. Das nannte man früher zwangsweise Aufnahme oder zwangsweise Behandlung, heute wird das als Aufnahme ohne Verlangen bezeichnet. Von dem zuständigen Gericht und einem unabhängigen Gutachter wird geprüft ob die Unterbringung rechtens ist.

In Zeiten der Verwahrungspsychiatrie waren Menschen großteils unfreiwillig in den Psychiatrien. Das hat sich geändert. Die Mehrheit der Patienten wird heute freiwillig stationär und ambulant behandelt.

derStandard.at: Wie beurteilen Sie die derzeitige rechtliche Situation?

Musalek: Wir haben eine strenge Gesetzeslage, die den großen Vorteil hat, dass kaum jemand aufgenommen werden kann, der es nicht wirklich unbedingt braucht. Die Regelung schützt Freiheit des Einzelnen besonders- was ich persönlich sehr befürworte. Allerdings hat sie auch den Nachteil, dass es eine Reihe von Patienten gibt, die eigentlich eine Behandlung bräuchten, aber es aufgrund der Erkrankung nicht oder noch nicht einsehen können. Diesen Menschen wird dann eine Behandlung verwehrt, weil sie sie selbst ablehnen. Das große Problem bei psychisch Kranken ist, dass sie aufgrund der Erkrankung die Einsichtsfähigkeit verlieren können.

derStandard.at: Welche Behandlungen sind bis heute nicht unumstritten?

Musalek: Es gibt eine ganze Reihe an Maßnahmen, die für die Betroffenen in der Situation nicht so angenehm sind. Das eine ist natürlich die Sedierung (medikamentöse Ruhigstellung, Anm.). Es geht nicht darum, dass der Patient beruhigt wird, sondern es kommt in diesen Ausnahmesituationen zu massiven vegetativen Erschöpfungen, da die normalen körperlichen Regelkreisläufe aus der Bahn geraten. Dem kann man zuvor kommen, indem man den Patienten vorher entsprechende sedierende Medikamente gibt, das ist eine Möglichkeit der Akutbehandlung, die manchmal notwendig ist.

Eine Behandlungsform, die in der Bevölkerung noch immer sehr umstritten ist, aber in der Fachwelt gar nicht, ist die so genannte Elektroheilkrampf-Behandlung - besser bekannt unter dem veralteten Ausdruck Elektroschock-Therapie. Im Film 'Und einer flog über das Kuckucks-Nest' wurde leider nicht gut recherchiert, denn dort wird der Patient sehr lange Zeit unter Strom gesetzt - was der helle Wahnsinn ist. Im Gegensatz zum Film, wird in der Realität nicht mit Strom behandelt, sondern es wird mittels eines kurzen, 2,5 Sekunden dauernden, Stromstoßes ein epileptischer Anfall ausgelöst. Über diesen Anfall kommt es zu einer Art Neuanspringen der einzelnen Systeme. Was eigentlich induziert wird, ist ein Selbstheilungsprozess. Früher, noch bevor es diese Behandlung gab, wurde an depressiven und psychotischen Patienten beobachtet, dass es ihnen nach zufälligen epileptischen Anfällen deutlich besser ging oder die Erkrankung zum Teil sogar abklang. Daher wurde seit Anfang des vorigen Jahrhunderts versucht, epileptische Anfälle künstlich auszulösen - mittels verschiedener Methoden. Die sicher beste und sicherste ist jene mittels eines kurzen Stromstoßes in Kurznarkose.

derStandard.at: Wie häufig wird die Elekroheilkrampf-Therapie eingesetzt?

Musalek: Sehr selten und nur bei sehr schweren psychischen Erkrankungen. Weniger, weil die Methode so gefährlich ist, sondern weil es insgesamt ein sehr aufwändiges Verfahren ist. Man braucht einen Anästhesisten für die Kurznarkose, eine Institution, wo das Verfahren durchgeführt werden kann, eine entsprechende Ausstattung. Die Behandlung selbst ist hoch wirksam.

Das Problem dieser Therapie war, dass Ärzte in den 1960er Jahren, den Zeiten der ersten großen Erfolge, gedacht haben, man könne alles damit behandeln, was zu einem viel breiten Einsatz führte. Davon ist man heute wieder weit entfernt. Die Indikation für eine Elektroheilkrampf-Therapie wird heute sehr eng gestellt.

derStandard.at: Was ist mit Insulinschocktherapien - gibt es die noch?

Musalek: Die Insulinschocktherapien gibt es schon seit den 1960er/70er Jahren nicht mehr. Das ist völlig obsolet und wird ganz zu recht nicht mehr gemacht, weil das mit einer erheblichen Nebenwirkungsrate verbunden war. Dabei hat man eine Hypoglykämie (Unterzuckerung, Anm.) erzeugt, wodurch es ebenfalls zu epileptischen Anfällen kommt. Aber diese sind schlechter steuerbar.

derStandard.at: Werden heute noch psychochirurgische Eingriffe gemacht?

Musalek: In den 1950er/60er Jahren gab es eine ganze Reihe an psychochirurgischen Versuchen und Eingriffen. Diese werden heute nicht mehr durchgeführt. Was es aber gibt ist die tiefe Hirnstimulation. Das ist aber in der Regel ein minimal invasiver Eingriff, der beispielsweise bei Parkinson-Patienten oder Patienten mit dem Tourette-Syndrom eingesetzt wird.

derStandard.at: Wann kommt die Schlaftherapie zum Einsatz?

Musalek: Früher hat es Schlafkuren gegeben, bei denen Patienten über Wochen medikamentös in eine Dauernarkose versetzt wurden. Eine Schlaftherapie in diesem Sinne gibt es nicht. Aber eine Sedierung ist schon notwendig, da akut psychotische Patienten in eine massive körperliche Erschöpfung kommen können.

derStandard.at: Wie lange werden diese Patienten sediert?

Musalek: Das kommt darauf an, wie ausgeprägt das psychotische Zustandsbild ist und wie stark somatische Parameter beeinträchtigt werden. In der Psychose werden körperlich extreme Kräfte freigesetzt, die Bremsmechanismen fallen völlig aus. Das ist das Gefährliche für den Betroffenen. In einer massiven Psychose muss man deshalb dementsprechend sedieren. Und eins muss uns schon klar sein: Es handelt sich dabei um lebensbedrohliche Zustände per se. In der Bevölkerung kursiert oft die Sichtweise, dass eine psychische Krankheit zwar schon schwierig ist, aber nicht wirklich lebensbedrohlich. Das stimmt nicht.

derStandard.at: Fixierungen sind ebenfalls oft Gegenstand von Diskussionen. Diese kommen nicht nur in Psychiatrien zum Einsatz, sondern teilweise auch auf internen Stationen von Spitälern.

Musalek: Fixieren dürfen nur ganz bestimmte psychiatrische Institutionen, die ganz bestimmten Kontrollmechanismen unterliegen. Das Anton-Proksch-Institut darf das beispielsweise nicht. Es wird immer wieder berichtet, dass das auf Unfallchirurgien oder Internen Abteilungen auch gemacht wird, aber dann ist das einfach gesetzesinkonform. Das fällt letztlich unter Freiheitsberaubung.

derStandard.at: Was hat sich bei den Behandlungsmethoden in den letzten Jahren und Jahrzehnten geändert?

Musalek: Es gab riesige Revolutionen. Die medikamentöse Therapie hat sich in punkto Effektivität und Diversität gesteigert, die Nebenwirkungsrate wurde deutlich gesenkt. Gleichzeitig hat sich die Psychotherapie sehr weiterentwickelt, gerade was die Behandlung schwerer psychischer Krankheiten betrifft. Auch im psychosozialen Bereich hat sich extrem viel getan, denn es ist ebenso wichtig, die Menschen wieder in die Arbeit und Gesellschaft zu integrieren.

Und die wahrscheinlich größte Revolution, die derzeit im Gange ist: das Weggehen vom so genannten "Symptomkilling" als Therapieziel. Es sollen nicht nur die Symptome reduziert werden, sondern der Mensch soll wieder ein schönes Leben führen können; autonom und möglichst freudvoll. Das kann man nicht verschreiben, das kann man auch nicht auftrainieren sondern das kann man nur induzieren und dem Patienten helfen, es für sich selbst wieder zu finden. Das ist auch der Grund, für den Start unserer Imageoffensive mit dem Motto 'Das Leben ist schön'. (Ursula Schersch, derStandard.at, 11.11.2011)