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Seit Monaten machen türkische Bürger ihrem Unmut Luft, weil die Regierung ihre Freiheiten im Internet beschneiden will.

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Die Behörden werden gewisse Inhalte sperren und zudem die Aktivität ihrer Bürger im Netz beobachten. Aber schon heute gibt es Restriktionen.

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Türkische Internetbenutzer sollen bald unter eine virtuelle Käseglocke kommen: In einer in Europa beispiellosen Weise wollen die Behörden am 22. Oktober ein Filtersystem einführen. Ursprünglich hätte es bereits Ende August operativ werden sollen.

Nach Gesprächen mit Bürgerrechtsgruppen scheint das dafür zuständige Verkehrsministerium nun zu Zugeständnissen bereit, diese gehen Kritikern aber nicht weit genug. "Es gibt Anzeichen für Änderungen, aber keine bei unseren größten Bedenken" , sagt Özgür Ucken, Dozent für Kommunikationswissenschaft an der Bilgi-Universität in Istanbul. "Ein zentral kontrolliertes Filtersystem ist gleichbedeutend mit Zensur."

Die Regierung liest mit

Die Internetbehörde der konservativ-muslimischen Regierung von Premierminister Tayyip Erdogan hat den Aufbau einer zentralen Schnittstelle beschlossen, die künftig alle Internetbenutzer im Land passieren müssen, wenn sie eine Webseite öffnen oder ein E-Mail senden. An die Schnittstelle schließen sich verschiedene Filter an. Die Listen mit den blockierten Domains sind nicht öffentlich zugänglich und werden von der Regierung ständig aktualisiert. Das System beobachtet zudem alle Aktivitäten der User im Internet.

Ähnliche Vorkehrungen haben bisher China, Nordkorea oder Saudi-Arabien mit dem "Halal Internet" getroffen. "Wird es umgesetzt, wird dies zum ersten von einer Regierung kontrollierten und betriebenen, verpflichtenden Filtersystem innerhalb der OSZE führen" , heißt es in einem neuen Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Bereits jetzt habe die Türkei die "am weitesten gefassten gesetzlichen Mittel, um den Zugang zu Webseiten zu blockieren, indem elf verschiedene verbrechensrelevante Inhalte definiert werden" , stellt der Bericht fest.

Darunter fällt Kinderpornografie, aber auch Webseiten, die "obszön" sind, Fußballwetten anbieten, zum Selbstmord ermutigen oder das Andenken an den Republikgründer Kemal Atatürk beleidigen. Verboten wird der Zugang zu Webseiten durch Gerichtsbeschluss oder einfach durch Anordnung der Telekommunikationsbehörde TIB.

Staatspräsident Abdullah Gül, der das System per se verteidigt, kritisiert aber die Praxis, ganze User-Gruppen etwa wegen eines einzigen beanstandeten Videos auszuschließen. Die Türken zählen bisher zu den eifrigsten Benutzern von Diensten wie Facebook.

Ihre Liste mit den aktuell blockierten Internetseiten gibt die türkische Regierung seit 2009 nicht mehr bekannt. Nach Zählung von engelliweb, das von türkischen Internetaktivisten betriebenen wird, hat sich die Zahl der blockierten Seiten seit Jänner 2010 auf 14.700 verdoppelt und wächst ständig. Seit Februar dieses Jahres sind auch Webseiten blockiert, auf denen Alkohol zum Verkauf angeboten wird.

"Kind - Familie - Standard"

Nach bisherigem Kenntnisstand empfiehlt das Ministerium eine Neufassung des Filtersystems, bei der dem Benutzer statt vier nur noch drei Filterstufen angeboten werden: "Kind" , "Familie" oder "Standard" ohne Filter. Allerdings hat auch der sogenannte "Standard" seinen Rahmen: Das Überwachungssystem wird, gleichgültig bei welchem Filter, ein Verfahren mit dem Namen "deep packet inspection" (DPI) verwenden, erklärt Özgür Ucken. DPI werde jetzt bereits von den Behörden in einer weniger ausgeklügelten Version zur Kontrolle benutzt. Auch Usern mit "Standard" -Profil wird es dann nicht mehr möglich sein, blockierte Webseiten durch die einfache Eingabe der Webadresse eines Proxyservers zu umgehen. (Markus Bernath aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2011)