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Tahrir-Platz in Kairo, 29. Juli. Auf dem Transparent steht "Identität bewahren - islamisches Äypten"

Foto: Reuters//Amr Abdallah Dalsh

Weder der Islam noch die Scharia seien bedroht, zitiert Al-Ahram Weekly den ägyptischen Politologen Hossam Tamim, aber die Rivalität mit anderen islamischen Gruppen bringe die Muslimbrüder dazu, sich als Verteidiger des Islam und der Scharia aufzuspielen. Das tut in Ägypten jedoch nicht nur die Muslimbrüderschaft, sondern auch der Staat. Schon das Regime von Hosni Mubarak unterdrückte zwar islamistische Gruppen, weil es mit niemandem die politische Macht teilen wollte, gab aber selbst immer wieder deren Forderungen nach, um ja selbst nicht als „unislamisch" da zu stehen. Daran hat sich offenbar nach dem Umsturz nichts geändert, im Gegenteil.

Vergangene Woche empfahl eine staatliche ägyptische Kommission, dem Autor Sayyid al-Qimni* den Staatspreis für Sozialwissenschaften abzuerkennen, der ihm 2009 zugesprochen wurde. Die Sache liegt jetzt beim Verwaltungsgericht. Qimni (64) hat angekündigt, sich zu wehren, sollte das tatsächlich passieren. In seiner ersten Stellungnahme verwies er auf den ideologischen Richtungsstreit in Ägypten - der am vergangenen Freitag, dem letzten vor dem Fastenmonat Ramadan, direkt auf dem Tahrir-Platz ausgetragen wurde: Angesichts des überwältigenden Aufmarsches von Islamisten hatten sich 28 säkulare demokratische Gruppen vom Platz zurückgezogen, weil sie ihre politischen Anliegen nicht „kidnappen" lassen wollten. Auf dem Platz, der zum Symbol für Freiheit und demokratischen Wandel in der arabischen Welt geworden ist, erschallten Rufe wie „Obama, wir alle sind Osama" und, in Richtung Ko-Revolutionäre, „Haltet den Mund, ihr Säkularisten. Ägypten bleibt ein islamischer Staat".

Der Fall Qimni fällt in ein mediales Aufmerksamkeitsloch: Wen kümmert in all dem Chaos ein eher grantig wirkender älterer Herr, der die islamische Eroberung Ägyptens im 7. Jahrhundert mit der US-Invasion im Irak 2003 zu vergleichen pflegt? Mit der Empfehlung, ihm den Preis wieder wegzunehmen, hatte die Kommission islamistischen Rechtsanwälten Recht gegeben, die gegen die Verleihung geklagt hatten, weil es doch ein Skandal sei, dass einer geehrt werde, der „den Koran und die Sunna (die überlieferte Tradition, Anm.) verletzt, den Propheten verunglimpft und Gott beleidigt". „Der Preis (umgerechnet gut 23.000 Euro, Anm.) wird aus Steuergeldern bezahlt (...) und sollte nicht an von Gott Abgefallene verschleudert werden", urteilte die staatliche Kommission.

Qimni hatte sich schon vor Jahren mit den Islamisten angelegt. Er kratzte dabei - und in dieser Beziehung ähnelt er dem im Vorjahr verstorbenen großen ägyptischen Islamwissenschafter Nasr Hamid Abu Zeid, der seine letzten Jahre im Exil in Europa verbrachte - nicht nur an den Fundamenten des islamischen Narrativs, sondern attackierte auch das islamische Establishment, das von diesem Narrativ lebt, als scheinheilig und korrupt. Qimni selbst stammt aus einer ägyptischen Gelehrtenfamilie und wurde sehr religiös erzogen. Er studierte Philosophie und danach islamische Geschichte an der Al-Azhar-Universität. Sein Wandel - auch sein politischer, vom panarabisch denkenden Nasseristen zum ägyptischen Liberalen - ging langsam vonstatten.

Für die Islamisten auffällig wurde er erstmals in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren, als er sich in Artikeln und später (ab den 1990ern) in Büchern die islamischen Traditionen, die Mythen und das Leben des Propheten vornahm - auch den Koran selbst, wobei er eine in der modernen islamischen Theologie schon lange übliche Unterscheidung zwischen verbindlichen und nicht verbindlichen und gänzlich überholten Versen betont. Die Chronologie der Verkündung und der historische Kontext spielen dabei eine große Rolle. Das ist ja ohnehin fast schon Mainstream, auch für „normale" Muslime und Musliminnen in ihrem Alltag -aber Qimni fordert von Theologen und Gläubigen ein, dass sie endlich ihre Hausaufgabe machen und die Sache wissenschaftlich redlich aufarbeiten und klarstellen.

In Schriften wie „Die Haschemiten-Partei", „Der Mohammedanische Staat" und „Die Kriege des Prophetenstaates" hält er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, dass die Frühgeschichte des Islam - die bis in die Gegenwart wirkt - viel mit Machtpolitik und wenig mit göttlicher Offenbarung zu tun hatte. Das ist ein Schlag ins Gesicht besonders der Salafiten, für die die ersten Generationen nach dem Tod des Propheten Muhammad den „reinen" Islam verkörpern („Salaf" ist der Vorfahre), den es nachzuahmen gilt. Dass Qimni vor keiner Provokation zurückschreckt, zeigt auch der Titel eines 2004 veröffentlichten Buches „Shukran ... Bin Laden!!" (Danke ... Bin Laden!!): Bin Laden als Karikatur des Islam, die allen die Augen öffnen sollte.

Schon früher wurden rabiate islamistische Drohungen gegen ihn ausgestoßen. Der einflussreiche islamische Journalist Fahmi Huwaydi nannte Qimni bereits 1989 „schlimmer als Rushdie", und 1992 forderte ein anderer Schreibtischtäter „Jemand bringe ihn zum Schweigen". Dass sich Eiferer finden können, die so etwas in die Tat umsetzen, zeigte 1992 der Mord an Farag Foda: Der säkulare Autor war zuvor von Al-Azhar zum Apostaten und für vogelfrei erklärt worden. Und auch nach der Tat distanzierte sich Al-Azhar nicht.

Bei Qimni äußerte sich die islamische theologische Schule jedoch etwas vorsichtiger: In einer Fatwa gab sie zwar den Anschuldigungen gegen Qimni Recht, ohne ihn jedoch namentlich zu nennen. Als ihm 2009 von Kulturminister Faruq Hosni - ebenfalls einem Feindbild der Islamisten, weil als Kopftuchgegner bekannt - der Staatspreis verliehen wurde, begannen sich islamistische Juristen der Sache anzunehmen. Wenn ihm die Ehrung vom Staat wieder aberkannt wird, dann ist sein Status als Apostat gewissermaßen von offizieller Seite bestätigt.

Die Liste der ägyptischen Intellektuellen, denen von Islamisten das Leben schwer gemacht wurde und wird, ist lang. Eine beliebte Strategie der Islamisten in den 1990er Jahren war, unter Zitierung eines eigentlich obsoleten Rechtsparagraphen, der das allgemeine Volkswohl und öffentliche Interesse (Hisba) einklagbar macht, die Zwangsscheidung ihrer Opfer bei Gericht zu veranlassen: Denn es könne ja wohl nicht sein und sei eben gegen dieses öffentliche Interesse, dass eine muslimische Frau mit einem vom Islam Abgefallenen verheiratet sei! Genau dies widerfuhr dem hier bereits erwähnten Abu Zeid - der sich dem Koran als „Text" näherte, mit sprachwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Methoden - und seiner Frau Ibtihal Younis. Und der ägyptische Staat reagierte nicht etwa, indem er dem Spuk einen Riegel vorschob, sondern indem er das Vorgehen bei Hisba-Klagen reglementierte und sie dadurch erst recht im Rechtssystem verankerte.
Aber diesen Staat gibt es nicht mehr. Wie das Verwaltungsgericht der Post-Mubarak-Zeit in der Causa Qimni entscheidet, könnte richtungsweisend sein für das neue Ägypten.