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Mit Ethnolekten sind von MigrantInnen gesprochenen Varietäten einer Sprache, die Merkmale einer anderen Mutter- bzw. Erstsprache tragen.

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In 23 Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen wird in dem von Michaela Bürger-Koftis, Hannes Schweiger und Sandra Vlasta herausgegebenem Band "Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität" den Zusammenhängen zwischen individueller oder gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und Kreativität im Allgemeinen bzw. literarischer Kreativität im Besonderen" nachgegangen. Jedes der neun Kapitel, in die der Band gegliedert ist, widmet sich einem bestimmten Forschungsgebiet, aus dessen Sicht das Verhältnis von Mehrsprachigkeit und Kreativität analysiert wird. Das Spektrum der dabei vertretenen Disziplinen reicht von der Biografie- und Mehrsprachigkeitsforschung über die Kognitionswissenschaft, Neurolinguistik und Hybriditätsforschung bis hin zur interkulturellen Linguistik und Komparatistik.

"Isch habe Jacke"

Mit Ethnolekten, also mit von MigrantInnen gesprochenen Varietäten einer Sprache, die Merkmale einer anderen Mutter- bzw. Erstsprache tragen, beschäftigt sich Michaela Bürger-Koftis in ihrem Beitrag "Ethnolekte und McLanguage. Zum Kreativpotential von Sprachhybridität". Als grundlegende Merkmale von Ethnolekten führt Bürger-Koftis dabei neben der "Simplifizierung und Reduktion grammatischer Kategorien" und der Sprachmischung auch das bewusste "Übernehmen von emotional besetzten" Wörter aus der jeweiligen Mutter- bzw. Erstsprache an. Kommt es bei Ethnolekten zur "Koronalisierung des ich-Lauts (ich > isch) und zur Artikeltilgung", sind Sätze wie "Isch habe Jacke" das Ergebnis. Auch widmet sich Bürger-Koftis dem unter dem Begriff McLanguage subsummierten Einfluss des Englischen auf die deutsche Sprache. In diesem Zusammenhang weist sie auf das so bezeichnete "Globish", also das "weltweit gesprochene Bad simple English" hin. Abschließend zeigt sie anhand mehrerer Texte von Dragica Rajčić und Feridun Zaimoglu auf, wie sich "AutorInnen der transkulturellen Literatur sprachhybride Varietäten kreativ zu Nutze machen".

Code-switchende Nischen

Verwenden mehrsprachige SprecherInnen Elemente zweier Sprachen gemischt bzw. abwechselnd, ist von code-switiching bzw. code-mixing die Rede. Diesem Phänomen widmet sich Dagmar Winkler aus neurolinguistischer Perspektive. Winkler bezieht sich dabei auf aktuelle Ergebnisse neurolinguistischer Forschung die nachweisen konnte, dass für die Erst- sowie weitere erlernte Sprache Nischen im Gehirn ausgebildet werden, die sich durch spezifisch dafür neu bildende Neuronen einen Verbindungsweg schaffen und somit das code-switching ermöglichen: "Diese Nischen können untereinander kommunizieren, ‚code-switchen‘, aber jede Nische ist in andere Situationen eingebettet, mit anderen Gefühlen, Erlebnissen, Erfahrungen und Lernsituationen verbunden und das macht ihre Andersheit, ihr Getrenntsein aus." Anhand mehrerer Texte von Marica Bodrožić geht Winkler in ihrem Beitrag der Frage nach, ob dieser Prozess in literarischen Texten mehrsprachiger AutorInnen nachzuweisen ist.

Literarische Mehrsprachigkeit

Das letzte Kapitel des Bandes beleuchtet aus einem komparatistischen Blickwinkel die Frage, ob bzw. wie die Erstsprache/n von AutorInnen deren Schreiben in der jeweils gewählten Literatursprache (hier: Deutsch) beeinflusst und sucht nach den Spuren, die die Erstprache/n in den Texten hinterlassen. In fünf Fallstudien untersuchen ForscherInnen, die jeweils auch mit der Erstsprache der AutorInnen vertraut sind, den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und literarischer Kreativität. So analysiert etwa Peter Holland welche Rolle dem Motiv des Erlernens und des Erinnerns der arabischen Sprache in Semier Insayifs 2009 erschienenen Roman Faruq zukommt. Und Cornelia Zierau zeigt anhand der Texte von Emine Sevgi Özdamar und Yoko Tawada, wie sich Mehrsprachigkeit konkret in literarischen Texten äußert.

Fazit

Mit "Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität" legen die drei HerausgeberInnen einen Band vor, der als Einstieg in ein größer konzipiertes Gesamtprojekt zum Thema fungiert. Eine sich in Vorbereitung befindende Homepage zum Thema soll dabei nicht nur Plattform für wissenschaftliche Publikationen sein, sondern auch eine (als Ausgangspunkt für neue Forschungen zum Thema gedachte) Datenbank beinhalten, auf der Interviews mit AutorInnen, aber auch mit Schreibenden aus Medien und Wissenschaft, deren Sprachbiografie durch Mehrsprachigkeit geprägt ist, abrufbar sind. Aber es ist nicht erst die Einbettung in ein größeres Gesamtprojekt, die den Band für all jene, die sich mit Mehrsprachigkeit auseinandersetzen oder dafür interessieren, lesenswert macht. Durch das multidisziplinäre Design des Bandes erhält man Einblick in eine breite Palette an Forschungsfragen zum Thema, das in all seinen vielfältigen Facetten kompetent beleuchtet wird. Und das übrigens in den meisten Fällen von BeiträgerInnen, die selbst aus mehrsprachigen Kontexten kommen. (Meri Disoski, daStandard.at, 24. Juli 2011)