Leben, denken, fühlen und eine musikalische Leichtigkeit: Der litauische Lyriker Eugenijus Alisanka.

Foto: Renate von Mangoldt

Litauen ist ein Land der Lyrik. Das liegt zuerst einmal daran, dass die archaischste heute noch gesprochene indoeuropäische Sprache über einen Formen- und Klangreichtum verfügt, der seinesgleichen sucht. Zum anderen hat die sowjetische Zensur bis zur Wiederherstellung des unabhängigen Staates vor zwei Jahrzehnten dafür gesorgt, dass Gedichte interessanter waren als Romane und natürlich aufregender als die gleichgeschaltete Presse, weil man in eine Verszeile Andeutungen einschmuggeln konnte, die im Klartext nie durchgegangen wären.

In der Demokratie hat die Prosa die Lyrik überflügelt - an Auflagenzahlen wie an erreichter Aufmerksamkeit. Doch Poesiefestivals sind noch immer ein fester Bestandteil des Kulturlebens, und Gedichtbände haben (bei 3,5 Millionen Einwohnern!) dieselben Auflagen wie im deutschen Sprachraum. In Litauen gibt es sie noch, die "reinen" Lyrikerinnen und Lyriker - und nicht als Auslaufmodelle.

So wie Volksmusik und ambitionierte zeitgenössische Kompositionen in Litauen ein größeres Nahverhältnis haben als das im deutschen Sprachraum vorstellbar ist, war auch die Lyrik länger der liedhaften Tradition verpflichtet. Daneben gab und gibt es einen formstrengen Klassizismus, der sich etwa bei Tomas Venclova, dem international bekanntesten litauischen Lyriker, aus der Tradition der russischen Altmeister wie Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam speist. Auch der noch wenig übersetzte Aidas Marcenas, der im Oktober dank eines Stipendiums des Bank Austria Literaris seine Poesie in Wien vorstellen wird, liebt die alten strengen Formen, allen voran das Sonett.

Eugenijus Alisanka, der einzige litauische Lyriker, der neben Tomas Venclova mit Gedichtbänden in deutscher Übersetzung vertreten ist, hat mit beiden genannten Traditionen nichts gemein. In seinen bisher sechs Lyrikbänden finden sich von Anfang an freirhythmische und reimlose Gedichte ohne feste Strophenformen. Und wichtiger als die litauische Poesie war für ihn wohl die internationale, die er gut kennt, denn er hat aus dem Polnischen und Englischen übersetzt und viele Jahre das litauische Festival "Frühling der Poesie" organisiert, zu dem er Poeten aus zahlreichen Ländern eingeladen hat. Mittlerweile ist er selbst auf den internationalen Poesiefestivals zu Hause.

Alisanka ist 1960 im sibirischen Bernaul geboren, wohin seine Großeltern während der sowjetischen Okkupation deportiert worden waren, und im Vilnius der 1960er-Jahre aufgewachsen, wo er Mathematik studierte. Biografische Fakten haben lange keinen Eingang in seine Poesie gefunden - ihm schwebte das Gedicht als Kristall vor, gereinigt von konkreten Orten, Ereignissen oder Namen.

Mittlerweile hat er eine Kehrtwende vollzogen, die schon am Band aus ungeschriebenen geschichten abzulesen war, der 2005 in deutscher Übersetzung erschienen ist. In dem 2010 in der Edition Thanhäuser publizierten Essayband Baltische Adria, verfasst von Alisanka und dem slowenischen Autor Ales Debeljak, wird die Biografie selbst zum Thema. Das Konkrete wird für Alisanka immer wichtiger, was wiederum nicht heißt, dass seine Gedichte nun um Orte und Namen kreisen, aber "sie geben dem ganzen einen Geschmack, eine Färbung und eine Verbindung mit der Realität - und diese Realität ist interessant", wie der Autor selbst kommentiert.

In dem mit einem Abstand von fünf Jahren nun endlich auf Deutsch erschienenen Band exemplum stecken sehr viele Realitätspartikel, und schon ein Blick auf die Gedichttitel zeigt Berlin, Wiepersdorf oder Venedig. Alisanka wurde als "poet on the road" bezeichnet, er ist ein intensiv Reisender, der Europas Hauptstädte ebenso kennt wie entlegene Gegenden. Aber dem Kasimir-Markt von Vilnius widmet er ebenso selbstverständlich ein Gedicht. Seine kulturellen Reminiszenzen von der Antike bis zu Nietzsche oder Roland Barthes sind nie aufdringlich, sondern eingeschmolzen in Bildern und sinnlichen Wahrnehmungen, und sie blitzen in den oft interpunktionslosen Satzgefügen mit ihren syntaktischen Mehrfachbezügen nur kurz zwischen anderen Wortgruppen auf.

exemplum heißt der Band - ein Titel, den man nicht übersetzen muss. Der Autor wollte damit natürlich kein Beispiel im moralischen Sinn geben, sondern nach eigener Aussage "ein Beispiel des Lebens, Denkens und Fühlens". Viele verschiedene Töne und Sprechhaltungen sind diesen Gedichten eigen, Denken und Schauen gehen eine produktive Verbindung ein, und Ironie ist ihnen nicht fremd. Das Nachwort der Übersetzerin Claudia Sinnig ist eine wunderbare Einführung in Alisankas poetischen Kosmos - auch wenn die litauische EU-Skepsis übertrieben dargestellt wird und ein sinnstörender Satzfehler zum Innehalten zwingt.

In der Übersetzung finden sich auch einige weniger glückliche Formulierungen, doch im Grunde gelingt es ihr, Texte zu kreieren, denen der Drive, die vorwärtsdrängende Dynamik des Originals eigen ist und die bei all den komplexen syntaktischen Bezügen eine musikalische Leichtigkeit haben, der man sich lesend gern überlässt.  (Cornelius Hell/ DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.7.2011)