Die Germanistin Oksana Havryliv sammelt Beleidigungen.

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Ganze 17 Jahre schon dreht sich bei Oksana Havryliv alles ums Schimpfen, Fluchen und Beleidigen. Und sie kann nicht genug davon bekommen - jedenfalls in wissenschaftlicher Hinsicht. Als die 1971 in Lviv (Lemberg) geborene Germanistin im Zuge eines Stipendiums des Österreichischen Austauschdienstes (ÖAD) in den 1990er-Jahre zum ersten Mal in Wien war, fand sie nicht nur Gefallen am hiesigen Dialekt, sondern stieß auch auf ein bisher wenig erforschtes Thema: die Wiener Schimpfkultur.

Zurück in der Ukraine, durchforstete sie für ihre Promotion moderne Literatur etwa von H. C. Artmann, Werner Schwab und Elfriede Jelinek - und sammelte 2000 Belege einschlägigen Vokabulars. Nach Wien kehrte sie mithilfe eines Lise-Meitner-Stipendiums für ForscherInnen aus dem Ausland zurück. In ihrem Projekt am Institut für Germanistik der Universität Wien verlegte sie sich auf die direkte Befragung von Wienerinnen und Wienern aus unterschiedlichen sozialen Schichten, um mehr über aggressive Sprechakte herauszufinden - von der Beleidigung und Drohung über Verwünschungen und Flüche bis hin zu aggressiven Aufforderungen à la "Schleich di" und "Geh scheißen".

Das Thema kann sie nun weiter ausfeilen: Anfang Juli wurde sie vom Wissenschaftsfonds FWF mit einem Elise-Richter-Stipendium für Senior-Postdocs ausgezeichnet, das ihr ermöglicht, in den kommenden vier Jahren "Verbale Aggression und soziale Variablen" zu erforschen. Das Projekt soll letztlich in eine Habilitation münden.

"Es gibt keine sozialen Unterschiede, was den Wortschatz betrifft", sagt Havryliv über die Ergebnisse, "sehr wohl aber bei Formen und Funktionen." So verwendeten Befragte ohne Matura häufiger offene verbale Aggressionsformen, während ProbandInnen mit Matura und AkademikerInnen öfter auf verdeckte Aggression zurückgriffen, also eher hinterrücks ausfällig werden. Ihre Erkundungen des Schimpfwortschatzes will Havryliv nun auf weitere Aspekte ausdehnen: "Möglicherweise wirkt sich das Geschlecht oder das Alter stärker auf verbale Aggression aus als der soziale Status", sagt die Sprachwissenschafterin. Schon jetzt habe sich gezeigt, dass es besonders in den unteren sozialen Schichten geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.

Das bestätigte auch eine Studie mit 200 Jugendlichen, die Havryliv kürzlich durchführte: "Mädchen nannten nur vier bis fünf verschiedene Nationalschelten, also rassistische Beschimpfungen wie 'Tschusch' und 'Kanak', während Burschen bis zu 30 Bezeichnungen angaben." Als neuesten Trend identifiziert Havryliv Schimpfwörter "nach dem Warmduscher-Prinzip": "Es gibt circa 50 Ausdrücke, die für Weichling stehen." Ein Beispiel: "Apfelsafttrinker".

Fest stehe, dass Schimpfwörter Schwachstellen und Tabus in einer Gesellschaft aufzeigen. Oksana Havryliv hat allein von Berufs wegen "keine Hemmungen" im Umgang mit unflätigen Ausdrucksweisen: "Wenn mein neunjähriger Sohn ein Schimpfwort aufschnappt, erkläre ich es ihm."

Samt Ehemann und den zwei Söhnen wird Havryliv nach einer Karenz in der Ukraine wieder nach Wien umziehen. Sie freut sich schon auf das sprachliche Umfeld: "Ich finde den Wiener Dialekt sehr schön und melodisch. Auch wenn ich ihn selbst nicht sprechen kann."(Karin Krichmayr/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.7.2011)