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Litauens Premierminister Andrius Kubilius im Jänner 2011.

Foto: EPA/LEFTERIS PITARAKIS / POOL

Vilnius/Wien - Die Affäre um einen in Österreich festgenommenen und kurz danach wieder freigelassenen ehemaligen russischen KGB-Offizier, der in Litauen wegen Kriegsverbrechen unter Anklage steht, hat am Wochenende in der baltischen Republik für gehörige Aufregung gesorgt. Ministerpräsident Andrius Kubilius warf Österreich "Missachtung europäischer Solidarität" vor, das Außenministerium kündigte für Montag eine Protestnote an, die Vilniuser Staatsanwaltschaft eine Beschwerde bei der europäischen Justizbehörde Eurojust.

Darüber hinaus meldeten sich zwei litauische Europaabgeordnete kritisch zu Wort, darunter der seinerzeitige litauische Präsident Vytautas Landsbergis. Der Politologe Vladimiras Laucius ließ sich in einem Medienkommentar für das vielgelesene Online-Portal "delfi.lt" am Sonntag dazu hinreißen, Österreich unter Zuhilfenahme des berüchtigten Israel-Zitats eines französischen Diplomaten als "beschissenes kleines Land" (derStandard.at berichtete) zu bezeichnen.

Haftbefehl "zu vage"

Ein 62-jähriger ehemaliger Oberst des sowjetischen Geheimdiensts KGB, der Afghanistan-Veteran Mikhail G., war am Donnerstag am Flughafen Wien-Schwechat von den österreichischen Behörden festgenommen worden. Weil die von Litauen im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls gelieferten Informationen laut dem Wiener Außenministerium aber "zu vage" waren, wurde der in Litauen als Hauptverantwortlicher der blutigen Ereignisse vom 13. Jänner 1991 in Vilnius Angeklagte jedoch wieder freigelassen - aus "rein rechtlichen Gründen", wie es aus dem Ministerium in Wien hieß.

Laut einem Bericht des "Kurier" vom Sonntag betrat G. formell nicht einmal österreichischen Boden. Der Russe sei noch im Transitbereich des Flughafens mit den litauischen Vorwürfen konfrontiert worden, heißt es in dem "Kurier"-Artikel. Daraufhin habe er sich entschlossen, nach Moskau zurückzufliegen. Dort sagte G. der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti am Samstag, er wolle sich nach der Aufregung zunächst einmal ausruhen. Litauen versuche 20 Jahre nach den Geschehnissen, Personen verantwortlich zu machen, "die nichts damit zu tun" hätten.

Widersprüchliche, unklare Aussagen

Zu der Affäre gibt es eine Reihe teils widersprüchlicher und unklarer Aussagen. Die litauische Justiz behauptet entgegen den österreichischen Angaben, sämtliche Erfordernisse für einen gültigen Europäischen Haftbefehl erfüllt zu haben. Eine Aussendung der Vilniuser Generalstaatsanwaltschaft vom Samstag ist bezüglich der Details allerdings etwas verwirrend und unscharf formuliert.

Der angeklagte Ex-KGB-Offizier war in den Jahren 1991-92 Kommandant der Sondereinheit "Alpha" und in die Kampfhandlungen rund um den Vilniuser Fernsehturm in der Nacht vom 12. auf den 13. Jänner vermutlich maßgeblich involviert. Damals starben vier Menschen. Je nach litauischer oder russischer Überlieferung wurden zwischen 600 und 1.000 weitere Menschen verletzt.

Freiheitsmythos

Die "Jänner-Ereignisse" in Litauen des Jahres 1991, inklusive der auch als "Blutsonntag" oder "Blutnacht" bezeichneten Kampfhandlungen rund um den Fernsehturm, waren eine Folge der von der Sowjetunion damals nicht anerkannten einseitigen Unabhängigkeitserklärung Litauens. Im Baltikum dienen die Ereignisse vielfach als Freiheitsmythos. Litauen sieht die Verantwortung für die Opfer ausschließlich bei der sowjetischen Führung. In der russischen Betrachtungsweise wird immer wieder auf den angeblich von der litauischen Führung befohlenen Einsatz von Scharfschützen hingewiesen, sowie darauf, dass auch ein "Alpha"-Soldat zu den Toten gehörte.

Das unabhängig gewordene Litauen machte in den folgenden zwei Jahrzehnten den Verantwortlichen den Prozess. 1999 wurden sechs Personen verurteilt, eine Reihe weiterer Verdächtiger wurde nie verurteilt, darunter Mikhail G. Einige der verbliebenen 23 Angeklagten sind mittlerweile verstorben, für andere ist wegen der ihnen zur Last gelegten Tatbestände die Verjährungsfrist eingetreten. Dies gilt offenbar nicht für G. Die Anklage gegen ihn wurde erst vergangenes Jahr auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ausgeweitet. (APA)