Bild nicht mehr verfügbar.

Der Atem jedes Menschen verändert sich ständig, passt sich der aktuellen Lebenssituation an.

Foto: AP/Axel Heimken

Am Anfang steht die Selbstbeobachtung. Wer Stress hat, atmet flach, wer jemand anderem beim Einschlafen zuhört, wird bemerken, wie die Atemzüge immer länger werden. Wer bedrückt ist, holt sich durch Seufzen Erleichterung: Der Atem jedes Menschen verändert sich ständig, passt sich der aktuellen Lebenssituation an. Wie genau, weiß Norbert Faller. Er ist Atempädagoge mit langjähriger Erfahrung, bildet Schüler in einer Disziplin aus, die aufs Erste simpel klingt. Wer jedoch in Fallers schlicht eingerichtetem Therapiezimmer in Ober St. Veit Platz nimmt, soll erst einmal zur Ruhe kommen. Draußen zieht ein Gewitter auf - doch genau das nicht mehr wahrzunehmen, sondern nur seinen eigenen Körper, ist eine der ersten Übungen.

Faller gibt die Anleitungen, die Klienten liegen auf dem Rücken auf einer Behandlungsliege und versuchen, ihre Aufmerksamkeit zum Beispiel auf den Bauchraum zu richten, die Hand dorthin zu legen und zu beschreiben, was beim Atmen genau passiert. "Sammlung" nennt Faller dieses In-sich-Gehen. Wer darin Übung bekommt, wird mit der Zeit Achtsamkeit sich selbst gegenüber lernen, sagt er, eine Fähigkeit, die zunehmend verlorengeht. Doch Faller ist kein Fanatiker, auch kein Esoteriker, sein Fokus liegt bei einem ganz natürlichen Prozess, der - weil er sich autonom vollzieht - einfach nicht genug beachtet wird. Vorsichtig und behutsam arbeitet er. Mit ganz gezielten Griffen beginnt er eine Art von Massage, bei der er "Raum schafft" - im Brustkorb, im Becken, in den Beinen. Er arbeitet die rechte Körperhälfte durch. "Und jetzt vergleichen Sie einmal die rechte und die linke Seite, und beschreiben den Unterschied", fordert er dann auf. Und tatsächlich: Während die eine Seite sich stark und weit anfühlt, mutet die andere wie eine verschrumpelte Karotte an.

Explizit gesteuertes Atmen wie langes Ein- oder Ausatmen ist in seiner Art der Atemlehre tabu. Immer ist es Bewegung - und sei es passive -, die die treibende Kraft ist. "Der Atem liegt an der Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, ich würde behaupten, dass vieles, was im vegetativen Nervensystem aus der Balance gerät, mit der Atmung wieder in Richtung Gleichgewicht gebracht werden kann", so Faller. Neben der massageähnlichen Behandlung im Liegen gibt es eine Alternative im Sitzen. Faller macht Übungen vor, fordert zum Mitmachen, dann zum "Nachspüren" auf. Es ist tatsächlich interessant, wie sich bestimmte Bereiche des eigenen Körpers dann anfühlen.

"Durch das Nachspüren werden Erfahrungen mental abgespeichert, die Klienten kommen dadurch mit sich selbst in Kontakt ", sagt Fallers Kollege Andreas Radon, für den die Atemlehre eine Art "Selbstermächtigung" ist. Burnout-Patienten hätten zum Beispiel jeden Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen verloren. Atemlehre sei aber bei jeder Art von psychosomatisch verursachten Beschwerden sehr hilfreich, berichtet er. Seine Arbeit versteht er als Prozess, als Entdecken von Ressourcen und Aktivieren von Selbstheilungskräften.

Ziel ist Wohlspannung

Durch Atmen in Bewegung lässt sich aber auch der Muskeltonus beeinflussen, sagt Faller. Dehnung löst Überspannungen von Muskeln, schafft Raum und fördert die Einatmung, rhythmische Bewegung koordiniert Ein- und Ausatmung, fließende langsame Bewegung hingegen fördert den Atemfluss, schwingende Bewegung wirkt anregend. Atemlehre verbindet dementsprechende Übungen miteinander und macht deren unterschiedliche Wirkung Klienten bewusst. "Wir sprechen in der Atemlehre lieber von Wohlspannung als Entspannung", betont Faller, der oft beobachtet hat, wie sich durch diese Wohlspannung Rückenprobleme verbessern lassen.

Schlussendlich hat Atmen aber auch eine emotionale und persönlichkeitsbildende Komponente. "Das Atembild und das Körperbild sind eng miteinander verknüpft, insofern ist Atemarbeit immer auch mit einer Persönlichkeitsentwicklung verknüpft", sagt Faller. Wer beginnt, sich mit dem eigenen Atem zu befassen, entscheidet sich für einen Prozess, eine Hinwendung zu sich selbst. Wie lange das dauert? "Unterschiedlich", sagt Andreas Radon. Bei manchen reichen zehn Stunden, andere brauchen länger, "in der Atemlehre darf es keinen Druck geben, Druck macht eng und nimmt den Atem", so Radon. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 18.07.2011)