Der italienische Autor Giorgio Vasta liest am 21. Juli in der Reihe O-Töne im Wiener Museumsquartier.

Foto: Alice Spano

In seinem verstörenden Roman Die Glasfresser lässt Autor Giorgio Vasta einen Elfjährigen die schrittweise Radikalisierung durchexerzieren: von der Faszination durch politische Ideologien bis zu deren absoluter Manifestation in sinnloser Gewalt. Von linken Ideen inspiriert, proben drei Schüler, die vor kurzem noch Comics gelesen und Insekten gequält haben, die politische Revolution, werden zu Fanatikern und Mördern.

Diese Geschichte einer politischen Radikalisierung bildet die erzählerische Oberfläche des Romans, der jedoch in seiner ausgeklügelten Tiefenstruktur soziokulturelle und metasprachliche Diskurse eröffnet. Der Roman spielt in Palermo und beschreibt die Entwicklung des jugendlichen Antihelden Nimbus im Jahr 1978, in dem Italien von der Entführung und Ermordung des ehemaligen christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die Brigate Rosse erschüttert wurde.

Nimbus, so der "Kampfname" des Schülers, der in eigenartigen Visionen mit allwissenden toten Katzen und verstümmelten Tauben spricht, verfolgt im Fernsehen die Anschläge der Linksterroristen und ist fasziniert von den Meldungen über die Todesopfer. Er möchte die "gierige Stadt" (Rom) sehen, die seit Wochen in den Nachrichten explodiert, und kann seine Eltern zu einer Ferienreise überreden. Auf der Reise wird die Begegnung mit einem jungen Pärchen im Zug zum Erweckungserlebnis wildromantischer Fantasien über den Terrorismus.

Auf einer zweiten, mitunter skurril mythologisierten Erzählebene wird der Fund eines verrosteten Stücks Stacheldraht zum initialen Moment: Der Draht ist Nimbus' Waffe, mit der er halbtote Straßenkatzen quält und tiefe Kerben in Schulmöbel ritzt. Seine Sehnsucht nach etwas Verheerendem, nach einem radikalen Umsturz der Verhältnisse, das seiner ziellosen jugendlichen Leidenschaft einen Sinn geben würde, teilt Nimbus mit zwei Schulfreunden, die wir als Genossen "Flug" und "Strahl" kennenlernen.

Die Buben sehen daheim jeden Abend vor dem Schlafengehen im Fernsehen die Postkartenbilder eines idyllischen Italien, das den kompletten Gegensatz zu ihrer realen Lebenswelt darstellt. Jenes Italien, das in schrillen Fernsehsendungen von fröhlichen Schlagerstars repräsentiert wird, ist ihnen zuwider.

Die drei gründen eine Zelle, die sich in etwa "der obszöne Kern Italiens" nennt und damit auch gleich ihren Gegner bestimmt. Sie rasieren sich die Haare ab und genießen die Beunruhigung, die sie mit ihren provokant kahlen Schädeln auslösen. Sie verbringen den Badeurlaub damit, eine absurde Gebärdensprache zu entwickeln, das sogenannte Alfastumm, das aus rund 20 pathetischen Schlagworten und emotionalen Begriffen besteht wie "drohende Gefahr", "Hass", "Schande", aber auch "an einem Scheideweg stehen" und "etwas Unvorhergesehenes". Die an asiatische Kampfsportphilosophien erinnernden Gebärden sind ausgerechnet von den verhassten Schlager- und Fernsehstars inspiriert: eine "politische Neuinterpretation der italienischen Dummheit" heißt das dann.

Die Idee des "Alfastumm" verweist auf die komplexe metasprachliche Ebene der Glasfresser: Das selbsterfundene Gebärdensystem ist streng limitiert, während die Protagonisten Sprache generell in ihrer Grenzenlosigkeit als Überfluss empfinden.

Nimbus, der sich selbst mit einem gewissen Stolz als "Mythopoet" gefällt, lässt sich von Sprache berauschen; er studiert penibel die Manifeste der Brigate Rosse, versucht, deren Stil zu kopieren. Gleich mehrmals fällt der Vergleich von Sprache mit einer Epidemie, vor der es keine Rettung gebe. Zugleich zieht sich eine spielerische Lust an der Sprache durch den Roman und die Motive der Protagonisten, die auf Exkursionen in ärmere Stadtviertel Palermos aufbrechen und sich dort einen Spaß daraus machen, mit den einfachen Sizilianern im Konjunktiv zu sprechen.

"Wir gehen weg aus Palermo allein dadurch, dass wir sprechen. Die Sprache ist unsere Schuld", heißt es an einer Stelle und in der Tat ist die existenzialistische Sehnsucht der jungen Burschen danach, Schuld auf sich zu laden, ein sprachliches Phänomen. In Diskussionen erörtern die jungen Genossen die Notwendigkeit, "Aktionen" auszuführen. Obwohl diese mit geklauten Tafelschwämmen und Radiergummis aus den Klassenzimmern beginnen, sehen sie nicht im Entferntesten nach Schulbubenstreichen aus.

Vasta beschreibt jene irrationale Dynamik, die scheinbar unausweichlich zur radikalen Gewaltsteigerung führt, mit der präzisen Sachlichkeit eines Naturwissenschafters, der seinem Schüler kausale Zusammenhänge auseinandersetzt. Man merkt bald: Die drei Knaben, die so gewissenhaft ih-ren selbstgezüchteten Fanatismus durchdeklinieren, sind ein abstraktes Gedankenexperiment ihres Autors, die Protagonisten keine Figuren eines Romans, sondern vielmehr die Symptome einer philosophischen Zustandsbeschreibung. Ihre Kritik äußern diese elfjährigen Kunstfiguren, deren Sprache keineswegs jene von Kindern ist, in bedeutungsschweren Urteilen: Italien sei "lauwarm", "unfähig, Verantwortung für das Tragische auf sich zu nehmen".

Man würde es sich zu einfach machen, würde man Die Glasfresser lediglich als Kritik an aktuellen italienischen Verhältnissen interpretieren. Vasta verschiebt in seinem Roman, in dem der bru-tale Plot nur ein literarisches Mittel zum Zweck ist, den Fokus von realen Bedingungen einer Sinnsuche hin zu analytisch abstrahierten, aus der Zeit gelösten Wahrnehmungen. Zweifellos eine der gewagtesten, erzählerisch interessantesten Neuerscheinungen. (Isabella Pohl, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 16./17. Juli 2011)